Leseprobe:
Die Spur des Feuersalamanders (Dagmar Westphal)
1
Der Koffer sprang auf und all ihre Habseligkeiten rollten zwischen die
Füße der Menschen, die wie eine unaufhaltsame unzähmbare
Masse durch den Raum wogte. Wie sollte sie unbeschadet alles wieder einsammeln
und ihren Weg fortsetzen?
Das Treffen hatte keine nachhaltigen Vereinbarungen erbracht und war wieder
einmal ergebnislos beendet worden. Warum hatte sie überhaupt daran
teilgenommen und ihre Pflichten vernachlässigt? Und wozu das viele
Gepäck? Der Inhalt eines Rucksacks wäre völlig ausreichend
gewesen.
Sie musste sich beeilen, um noch vor der Dunkelheit den Hof zu erreichen.
Falls der letzte Bus schon weg war, müsste sie die Landstraße
ins Dorf zu Fuß gehen, denn unter den Teilnehmenden am Treffen war
niemand aus dem Dorf, mit dem sie hätte mitfahren können.
Die Tiere mussten versorgt werden. Sie hatte nicht damit gerechnet, so
spät zurückzukehren und ihren Nachbarn daher nicht beauftragt,
die Pferde in den Stall zu bringen und sie zu füttern.
Sie kroch über den Boden, sammelte wahllos ein, was ihre Hände
zu fassen bekamen: eine Bluse, eine Jacke, eine Hose flatterten in den
Koffer. Und dann schleuderte ein Stiefel gegen ihre Schläfe
und es wurde ihr schwarz vor den Augen.
2
Endlich, hört sie eine weibliche Stimme sagen.
Sie öffnet die Augen und schaut in ein lächelndes Gesicht.
Wo sind meine Pferde? Sie müssen gefüttert werden.
Du hast geträumt, hier gibt es keine Pferde.
Aber doch, heute früh habe ich sie verlassen, irgendwer muss
sich um sie kümmern!
Deine Welt gibt es nicht mehr, wir sind rechtzeitig geflohen und
leben nun unter der Erde.
Was ist passiert? Warum erinnere ich mich nicht?
Als die Unwetter zunahmen und die letzte Klimakonferenz ohne nachhaltige
Ergebnisse verlief, gründeten Erik und Zarek die neue Zukunftsweltpartei,
die ZWP. Wir trafen uns zu einem Parteitag, an dem du auch teilgenommen
hast, erinnerst du dich?
Noch während des Treffens ging die Nachricht von einer gewaltigen
Naturkatastrophe um die Welt, die schon lange vorhergesagt worden war:
Im Süden des Kontinents hatte tagelang die Erde gebebt und mehrere
Vulkane waren gleichzeitig ausgebrochen.
Wir befürchteten, ihr Ascheregen würde die Atmosphäre verdunkeln
und vergiften und Krankheiten und Hungersnöte nach sich ziehen
wie vor über zweihundert Jahren beim Ausbruch einer Kette von Vulkanen.
Alle am Parteitag Beteiligten rannten auseinander, und noch am gleichen
Abend ging unsere kleine Gruppe unter Zareks und Eriks Führung in
den Untergrund.
Wir konnten uns retten, weil Erik einer wohlhabenden Dynastie angehört,
deren Familie bereits vor Jahren ein weiträumiges Höhlensystem
zu einem Bunker ausbaute und von der Außenwelt abriegelte.
Unsere Vorräte reichen für lange Zeit, und Zarek arbeitet
in seinem Labor daran, aus den Mineralstoffen in den Höhlen Nahrungsergänzungsmittel
zu gewinnen. Wasser ist durch einen unterirdischen See ausreichend vorhanden,
ein riesiges Reservoir.
Ich bin übrigens Semira und wohne im Zimmer neben dir, und wer bist
du? Dein Gesicht ist mir von den Versammlungen her bekannt, doch Name
und Anschrift von dir konnten wir in deinen Sachen nicht finden.
Ich
weiß es nicht. Warum weiß ich es nicht,
wer ich bin?
Du lagst bewusstlos am Boden und die Menschenmassen eilten achtlos
an dir vorbei. Wahrscheinlich hattest du von deinem Sturz eine Gehirnerschütterung.
Weil die Notärzte und Krankenhäuser ohnehin überlastet
sind, wegen der um sich greifenden neuartigen Grippeepidemie, kümmerten
wir uns um dich.
Ich werde dich Rana nennen, Rana ist die botanische Bezeichnung für
Frosch. Zusammengekrümmt wie ein kleiner Frosch warst du, als ich
dich fand, eine kümmerliche Kaulquappe. Ich habe dich aufgepäppelt.
Bald wirst du einer flinken Eidechse gleichen, die man hier in den Höhlen
finden kann oder einem Feuersalamander, von denen einige hier überwintern.
Rana kann es nicht fassen. Nun ist es also zur grausamen Gewissheit geworden,
wovor jahrelang gewarnt wurde.
Sie will sich nicht vorstellen, wie es auf der Erde ausschauen mag. Tränen
steigen in ihr auf, doch weinen kann sie nicht und auch kein Wort sagen.
Quäl dich nicht, es ist besser, sich nicht zu erinnern.
Semira reicht ihr einen Becher: Der Trank des Vergessens hilft dir,
wir trinken ihn täglich.
Wo sind Erik und Zarek?, möchte Rana wissen.
Sie wohnen neben den Laboren, sagt Semira, wir dürfen
sie nicht stören.
Rana fehlt es an nichts, das Leben ist voll automatisiert, Strom und
Sauerstoff werden durch Aggregate über Erdwärme erzeugt.
An der Wand gegenüber ihrem Bett bekommt sie auf Knopfdruck alles,
was sie zum Überleben braucht: tiefgekühlte Fertiggerichte in
der Mikrowelle erhitzt, Getränke, Videofilme, Musik. Alles entspringt
einem ausgeklügelten System.
Sie sehnt sich nach dem Duft von Blumenwiesen, nach Wind und Sonne, möchte
das Fell ihrer Pferde streicheln und den warmen Atem aus den Nüstern
auf ihrer nackten Haut spüren. Sie weint oft stundenlang, bis sie
irgendwann auf den Knopf an der Wand drückt und wie eine Verdurstende
nach dem Trank des Vergessens greift und in einen traumlosen Schlaf fällt.
Ihr Kopf schmerzt, als sie erwacht. Sie fragt sich, warum sie sich an
gar nichts erinnern kann, auf ihr gutes Gedächtnis war sie immer
so stolz gewesen. Der Trank ist die Ursache, nicht die Gehirnerschütterung.
Ich muss ohne ihn auskommen, beschließt sie, aber sie weiß
nicht, was schwerer zu ertragen ist: der Schmerz im Kopf oder der Schmerz
in ihrer Seele.
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