Leseprobe:
Vor 1000 Jahren - Adelheid - Ein Leben im Kanonissenstift Wendhusen (Sarina
M. Lesinski)
Die Reise
Die Fahrt in dem plumpen Reisewagen war anstrengend angesichts der holprigen
Straßen, die er befuhr. Im Inneren des Wagens sollten weiche Kissen
und Decken den Fahrgästen eine gewisse Bequemlichkeit verschaffen.
Trotzdem spürten sie jeden Stoß. Wenigstens waren sie hier
drin vor dem kalten Wind geschützt und dem Nieselregen, der seit
Tagen vom Himmel fiel und die Welt grau erscheinen ließ.
Adelheid seufzte leise, was ihr sofort einen strengen Blick von Mathild,
ihrer Erzieherin einbrachte. Aber das war ihr egal. Mathild würde
mit dem Wagen wieder zurückfahren ins Lipperland auf die Herlingsburg,
den Stammsitz von Adelheids Familie. Im Mai war Adelheid zehn Jahre alt
geworden. An diesem Tag hatte ihr Vater eine schwerwiegende Entscheidung
getroffen.
Ich werde dich fortschicken, meine Prinzessin, hatte er zu
Adelheid gesagt und dabei ihre beiden Hände in die seinen genommen.
Es fällt mir zwar schwer, mich von dir zu trennen, aber ich
werde dich ins ostfälische Wendhusen schicken. Dort gibt es ein bestens
ausgestattetes Kanonissenstift, das die Enkelin des verstorbenen Grafen
Hessi führt, der seine letzten Lebensjahre im Kloster Fulda verbracht
hat.
Aber Vater, das ist so weit weg, hatte Adelheid erschrocken
geantwortet.
Es wird dir dort gefallen, mein Kind. Wendhusen liegt im Harz. Du
wirst also auch in Zukunft Berge sehen und unmittelbar am Stift fließt
ein Fluss vorbei, die Bode.
Es ist also gar nicht so viel anders als hier bei uns im Lipperland. Das
Wichtigste ist aber, dass du in diesem Stift eine Menge lernen wirst.
Schließlich wirst du einmal einen begüterten Mann heiraten.
Das bedeutet, dass du Verantwortung übernehmen und seinen Hausstand
verwalten musst, wenn er abwesend ist.
Und das lerne ich in diesem Stift?, Adelheids Stimme klang
unsicher.
Ja, mein Kind. Außerdem wird es dir guttun, mit anderen Mädchen
deines Alters zusammen zu sein und nicht nur mit mir und deinen Brüdern.
Dieses Gespräch mit ihrem Vater ging Adelheid noch einmal durch den
Sinn, während der Reisewagen unaufhörlich seinem Ziel entgegen
rumpelte. Seit dem Tod von Gräfin Sieghild waren die strenge Mathild
und die beiden Zofen Mina und Elisa der einzige Umgang für Adelheid
auf der Herlingsburg. Die Burg beherbergte eine Männergesellschaft.
Schließlich hatte Adelheid fünf ältere Brüder, von
denen zwei bereits eigene Knappen hatten.
Ludowig, ihr ältester Bruder, sorgte mit seinen Knappen und zwei
anderen Kriegern für das sichere Geleit seiner Schwester. Adelheid
liebte ihre Brüder, sah sie aber nicht oft. Vor allem die beiden
Ältesten waren viel unterwegs.
Früher, als Mutter Sieghild noch lebte, kamen oft ihre Cousinen zu
Besuch und ihre Tante. Jetzt gab es nur noch selten Gäste auf der
Herlingsburg und es waren fast immer Männer, die ans Tor klopften.
Es ist nicht mehr weit, riss Mathilds Stimme Adelheid aus
ihren Gedanken. Sie schaute aus dem Fenster und sah einen bewaldeten Höhenzug
in der Ferne.
Ist das der Harz?, fragte sie leise.
Ja, Fräulein Adelheid. Ins Tal geduckt zwischen den Bergen
liegt unser Reiseziel, der Ort Thale mit dem Kloster Wendhusen.
Neugierig versuchten nun auch Mina und Elisa aus dem kleinen Fenster zu
schauen und einen Blick auf ihr künftiges Zuhause zu erhaschen. Die
beiden Zofen waren nur wenige Jahre älter als Adelheid und nach dem
Tod von Sieghild ihre einzigen Vertrauten. Im Stillen dankte sie ihrem
Vater, dass er die beiden Gespielinnen ihrer Kindertage mit auf die Reise
geschickt hatte.
In das Rumpeln der Wagenräder mischte sich ein Rauschen, ein Klang,
der Adelheid wohl vertraut war. Sie mussten die Bode erreicht haben. Ein
erneuter Blick aus dem Fenster verriet ihr, dass sie über eine hölzerne
Brücke fuhren. Kurze Zeit später ertönte das laute Brr,
Brr des Kutschers, und der Wagen kam zum Stehen. Die Männer
saßen ab und die Knappen übernahmen die Zügel der Pferde.
Ludowig klopfte an die Klosterpforte. Adelheid hörte, wie eine Frauenstimme
nach ihren Wünschen fragte.
Meine Schwester Adelheid, die Tochter des Grafen Timo von der Herlingsburg
im Lipperland, begehrt Einlass in dieses Stift, gab Ludowig bereitwillig
Auskunft. Sofort wurde ihnen das Tor geöffnet und der Wagen ratterte
über den gepflasterten Innenhof. Sie waren also am Ziel.
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