Leseprobe:
Die sieben Todsünden (Gudrun Strüber)

8. Kapitel

Die gierige Inka


Ich kniee vor dem alten Priester, der auch mein Großvater ist und recke meine flehenden Hände empor zu ihm. Er schreit mich an: „Was hast du getan? Der Fluch der Götter wird uns alle treffen!“ Er wankt und schüttelt sich vor Entsetzen. Sein Antlitz ist kreidebleich.

Ich, seine Lieblingsenkelin, verstehe nicht, warum es so entsetzlich sein soll, ein Rad zu benutzen. Mein Vater, der Inka, hatte es mir verboten, aber nicht erklärt, warum die Benutzung eines Rades diesem Verbot unterlag. Die Reaktion des Großvaters hingegen war mir gänzlich unverständlich. Nur weil ich einen Karren gebaut hatte, um meine Habe leichter ins Sommerbergland befördern zu können, soll ich jetzt bestraft werden?
Der Alte Priester kniete nun vor dem heiligen Schrein und murmelte Gebete.
Ich krieche langsam zurück in den Schatten der Säulen und warte. Den Raum verlassen darf ich nicht, ohne dass ich dazu die Erlaubnis bekomme.

Die Sonne berührt schon den Horizont. Langsam kriecht die Dunkelheit den Berg herauf.
Machu Piccu liegt sehr hoch. Es wird noch ein wenig dauern, bis die Schwärze den Tempel erreicht.
Endlich drehte sich der Greis um. Seine Augen suchten mich.
Ich erschreke. 1000 Jahre sehen mich an! Langsam schreitet er an mir vorüber und gibt mir nur mit der einen Hand einen Wink, ihm zu folgen.
Wir gehen zum Turm, von dem aus die Priester nachts die Sterne betrachten.
Unsere Priester sind hervorragende Astronomen mit herausragenden geistigen Fähigkeiten. Sie wissen sogar aus den Überlieferungen, dass sich ein schwarzes Loch in unserer Galaxie befindet. Mit Ihnen zu lernen wäre ein großer Wunsch – aber nicht ihren Hokus-Pokus

Im unteren Raum des Turmes befindet sich die Schule. Dort schlägt Großvater einen riesigen Gong an. Immer wieder in langsamen bedächtigen Schlägen. So werden die anderen Lehrer und Priester gerufen.
Das weiß ich, aber sonst bin ich ratlos, was ich hier soll. Ich muss warten.
In der Ecke vor dem großen Opfertisch steht mein kleiner Karren.

Endlich sind alle beisammen. Über mich sehen sie hinweg. Und dem Karren drehen sie demonstrativ den Rücken zu. Ich senke meine Augen vor mich auf den Boden, als sie alle zusammen das Sonnengebet singen. Dann folgen noch viele Gebete.

Ich werde immer müder. Obwohl ich Angst habe, was nun mit mir passieren wird, senken sich immer wieder schwer die Augenlider. Irgendwann schlafe ich im Knien auf dem Boden ein. Eine weite Reise liegt hinter mir – von der Küste des Ozeans hier herauf.
Deswegen baute ich mir ja auch den Karren. Neidisch haben die anderen Wanderer auf meinen flotten unbeschwerten Gang gesehen. Unser Volk besitzt seit Jahrtausenden das Rad. Vielfältig wurde es genutzt, in der Astronomie, in der Rechenkunst, in den Kalenderberechnungen, in der Kunst – nur nicht zum Transport für Menschen oder Ware.
Unsere Götter haben es verboten!

Weit im Süden habe ich eine alte Steinritzung gesehen, auf der ein Karren, wie meiner, abgebildet war. Also gab es früher die Verwendung des Rades zum Transport. Aber es gibt nur diese eine Ritzung. Ist es vergessen worden, sie auszulöschen?
Was ist so schlimm an einem Karren? Immer noch ist die Reaktion der Priester für mich unverständlich. An der Frontseite des Raumes sind die drei Kalenderräder aus dem Felsen gehauen. Das sind doch auch Räder!
Der gewöhnliche Kalender mit 360 Tage zuzüglich fünf arbeitsfreier weiterer Tage, ist seit der Götterzeit der Kalender für die Planung von Aussaat und Ernte. Die Monatsnamen geben Auskunft, welche Tätigkeit in der Landwirtschaft jeweils auszuführen ist.
Die Sonnensöhne hatten bei ihrer Ankunft vor vielen, vielen Jahrtausenden gesetzlich verankert, dass es beinahe in jedem Monat ein Fest gab oder ein Feiertag begangen werden konnte, um in das eintönige Leben auf dem Lande etwas Abwechslung zu bringen. Das Wort Feier oder Fest in der Quechua-Sprache heißt Raymi und ist fast in allen Monatsnamen zu finden.
Ich sehe mich weiter um und lenke meine Gedanken auf das, was ich sehe.

Dann kommt Bewegung auf. Meine Träumereien sind sofort verschwunden.
Mein Großvater setzt sich langsam und gravitätisch auf den erhöhten Sitz am Opferstein.
„Xenia, meine Tochtertochter, vor vielen Jahren war hier in unserem Land eine sehr weit entwickelte Kultur. Das war weit vor den Mochinca, sogar noch vor den Chavin, den Jaguarsöhnen. Auch die Priester damals wussten schon von der Bedeutung des Rades und seinen negativen Folgeerscheinungen. Aber über den Grund dieses Verbotes haben auch sie uns keine Nachrichten hinterlassen. Es gibt Sagen und vage Überlieferungen, aber nichts Beweisbares. Nichtsdestotrotz vertrauen wir unseren Vorfahren.
Mein Lehrer gab mir damals in meiner Lehrzeit diese Antwort:
Durch das Rad haben die Taten der Menschen, die es benutzen, eine größere Reichweite, als ihnen als Einzelnem und der Allgemeinheit guttut. Der Mensch ist für die Geschwindigkeit, die seine Füße leisten, gemacht worden. Auch der Transport von Gegenständen soll an die Kräfte des Menschen angepasst sein. Alles Übel resultiert darin, dass Menschen sich Kräfte anmaßen, die Ihnen nicht zustehen.
Fliegen und Fahren durch das Luft- und Wassermeer sind Göttern vorbehalten.
Als sich in früher Vorzeit die Menschen nicht daran hielten, verbreiteten sich als Erstes Krankheiten, dann kam ein ungesundes Streben nach mehr haben und mehr sein.
Dadurch verbreiteten sich wiederum Missgunst und Neid. Die Gier nach immer mehr und immer schneller hat dem Volk unserer Vorfahren so sehr durch die Umweltzerstörung geschadet, dass es fast ausgestorben war. Dann griffen die Götter ein. Die Menschen hatten ihre Lebensgrundlage, die Harmonie der Natur, vergiftet. Nur einige wenige profitierten kurzfristig von dem Gewinn durch die Benutzung des Rades, hatten aber nicht bedacht, dass durch die vielen Gifte in der Luft und im Wasser ihre Zeugungskraft nachließ.

Die Götter forschten nach der Ursache und machten die Erfahrung, dass das ganze Übel mit der Benutzung des Rades als Transportmittel liegt.

Um nicht wieder in so einen Zustand zu geraten, wurde das Rad verboten. Es ist uns Priestern klar, dass wir durch dieses Verbot nie wieder Maschinen haben werden, die uns die Arbeit erleichtern, aber wir haben dadurch zwei gesunde Arme und Beine. Vor allem ist unser Herz wieder in der Lage, am Meeresufer und ebenso in Bergeshöhen ruhig und kraftvoll schlagen zu können.

Nun hast du diesen verschlossenen Krug des Wissens geöffnet. Viele Menschen haben dich gesehen. Kannst du diese Bilder aus den Köpfen der Menschen wieder einfangen?
Damals haben die Götter alle Bilder von Rädern die dem Transport von Menschen oder Gegenständen zeigten auf Ton oder Fels vernichtet. Du hast wahrscheinlich das einzige übersehende Steinbild im Tempel von Cusco gesehen und gemeint, eine Göttin zu sein, die ein Rad benutzen darf.

Diese Vermessenheit muss bestraft werden. Die dafür in den alten Schriften vorgesehene Strafe ist die Steinigung. Wir werden beraten, ob du Milde verdienst.
Du wirst auf der obersten Kammer dieses Turmes auf dein Urteil warten.“

Ich bin verwirrt, – nur für den Bau und die Benutzung des Rades eine Steinigung? Das kann ich nicht be­greifen. Ich merke gar nicht wohin mich meine Füße tragen, aber oben auf der Treppe komme ich wieder zu mir. Ich sehe die Sterne über mir leuchten. alles rund um mich herum ist so normal und so banal wie immer. Nur in mir drin ist es eiskalt. In der obersten Kammer liegt etwas Laub für mein Lager, aber ich kann nicht schlafen. Ich frage die Sterne in Gedanken nach einer Lösung, aber sie antworten nicht. Irgendwann schreie ich meine Fragen auch hinaus.
Aber auch auf die Schreie kommt keine Antwort.

Am nächsten Tag kam meine Mutter Mama Ocllo II. Alle Herrscherfrauen tragen den Zunamen „Mama“. Die Götter wollen es so. Mama Occlo war die jüngste Tochter des Priesters und war eine sehr angesehene Frau. Als einzige Ehefrau des Inkas war ihre Stellung in der Gesellschaft sehr hoch. Die Menschen gingen gern zu ihr, um sich Rat oder Trost zu erbitten. Ich hoffe auch, dass sie mir helfen kann.

„Mein Kind, du hast gegen das Verbot der Götter gehandelt.“
Mama Occlo stand vor mir wie die Rachegöttin persönlich. Kein mildes Lächeln, Augen wie schwarze grundlose Seen. So habe ich sie noch nie gesehen. Meine Hoffnung auf Hilfe platzt wie eine Seifenblase.

„Du musst nun deinen Weg zu Ende gehen und das Urteil der Priester entgegennehmen. Die Götter haben für diesen Frevel die Todesstrafe vorgesehen. Die Inkas der vergangenen Epochen hatten beschlossen, die übliche Steinigung in besonderen Fällen in eine andere Todesart umzuwandeln. Aber Sterben wirst du für deinen Frevel! Da geht kein Weg daran vorbei.“
Eine große Kälte ging von ihr aus. War das noch meine Mutter?
Ich flehe: „Mutter munahusay – Liebe mich! Hab mich lieb!“
Kalt kam ihre Antwort: „Bete zur Quilla – der Mondgöttin!“
Mama Occlo drehte sich abrupt um und ging.

Die Kälte zerreißt mir fast das Herz.
Die Kammer ist klein und in der Nacht auch eiskalt. Ich lege meinen Poncho auf die Erde und versuche, darauf zu schlafen. Ich quäle mich durch die Träume der Nacht.
Ein alter Traum, der immer wiederkommt, bringt mir wieder viele Fragen nach dem „Warum?“.
Eine Insel, weiße Häuser und ein Gefühl von Schuld und Versagen.
Seit einiger Zeit erinnere ich mich auch im Wachen an den Traum, kann ihn aber nicht verstehen.

Beim Sonnenaufgang kommt eine Dienerin und bringt mir ein Fladenbrot und Wasser.
Auch einen Kübel für die Notdurft.
Ich kann nicht essen. Durch eine kleine Scharte sehe ich ins Freie hinaus. Es wird ein schöner Tag werden, mein Todestag! Ich muss warten. Nach einer Zeit wünsche ich mir fast den Todesboten herbei, denn dieses Warten ist nicht zu ertragen. Der Tag vergeht.
Als die Sonne zu sinken beginnt, esse ich doch noch etwas von dem Brot. Ich will nicht schwach dem Ende entgegen wanken. Das bin ich trotz allem meiner Stellung als Tochter des Inkas und Enkelin des höchsten Priesters schuldig. Trotzige Gedanken stürmen auf mich ein. „Ich kann kein Urteil akzeptieren, da ich mich nicht schuldig fühle!“, schreie ich hinaus.
Ein Echo hörte ich, aber keine menschliche Stimme. Hoch oben kreist ein Kondor über Machu Piccu. Meine Augen folgen ihm, soweit ich sehen kann. Dann kommt wieder die Nacht.

Ich werde in die Aufzeichnungen meines Volkes eingehen – als die Inkatochter, die das Rad wiedergefunden hat. Auch wenn ich mit diesem Gedanken in den Tod gehen muss. Meine Tat wird weiterleben, und ob sie wirklich Schaden über mein Volk bringen wird, entscheidet nicht der Oberpriester und auch nicht der Inka. Das entscheidet die Geschichte des Lebens.

Der nächste Herrscher wird mein Bruder Huayna Capac sein. Seine Frau Arauna Ocllo ist sehr viel freier aufgewachsen als ich. Huayna Capac hat sie in den südlichen Landen bei Nazca gefunden. Sie hat auch abgelehnt, sich „Mama“ zu nennen.
Mich tröstet der Gedanke, dass die beiden mich vielleicht verstehen können und die Idee des Rades nicht untergehen lassen.

Alles liegt in der Zukunft verborgen. – Auch mein Tod.

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