Leseprobe:
Reise nach Sadovoje (Gerhard Ludwig)

Kapitel Eins

Pathologie

Jobst Bläulich ist nun seit gut fünf Jahren Leiter des Kriminalkommissariates „Mord und Brand“ in der Universitätsstadt Göttingen. Der leicht übergewichtige Mann mit der ausgeprägten Stirnglatze freut sich seit langem nur noch auf eines: Seine Pensionierung am Ende des Jahres! Er ist des ständigen Wühlens in den Niederungen menschlichen Seins überdrüssig. Zu viele gequälte und geschundene Körper, zu viele Schicksale, denen er sich nicht immer verschließen konnte. Müde, aber routiniert tut er, was er nun mal tun muss! Seine Gefühle verbirgt er hinter einer mürrisch gelangweilten Fassade. Auch die ist zur Routine geworden.
Er hatte sich von der Fahrbereitschaft am Bahnhof absetzen lassen, um dort einen hohen Gast abzuholen. Der weitere Weg zum Rechtsmedizinischen Institut konnte dann bei dem schönen Spätsommer-Wetter zu Fuß bewältigt werden. Mit seinem gewohnten Dienstgesicht hatte er den Kriminaloberrat Dielmann begrüßt, seines Zeichens Abteilungsleiter beim Militärischen Abschirmdienst (MAD) in Köln. Dieser, ein wortkarger asketischer Mann mit schmalen Lippen und einem durchdringenden Röntgenblick, war ihm auf Anhieb irgendwie unheimlich. Sein Blick schien gleichzeitig Bläulich zu erfassen und parallel dazu das Umfeld zu scannen! Er wirkte maskenhaft emotionslos, aber hellwach! Bläulich gab sich also wenig Mühe besonders herzlich zu sein. Die zwei ungleichen Kriminalisten machten sich wortlos ohne Zeit zu verlieren auf den Weg zur Pathologie, die derzeit in einem Keller der alten Zahnklinik in der Geiststraße untergebracht war.
„Moin, Jobst!“, tönte es da auffallend gut gelaunt von der wackligen Bank im Schatten der alten Kastanien her. „So alleine? Ich denke, du bist als Eskorte für unser hohes Tier aus Köln engagiert!“
„Der braucht keine!“, stellte der geduldig vor dem Eingang wartende Bläulich trocken fest und begrüßte seinen Freund Hingstenberg herzlich. Der Professor der Rechtsmedizin ist überregional für seinen Spürsinn und akribische Obduktionen bekannt.
„Der bringt wohl nur den Reisekaffee weg.“
„Sag mal, kommst du auch zum Sommerfest des Standortkommandeurs?“ Bläulich zuckte mit den Schultern.
„Dann werden wir uns doch wohl sehen?“, drängelte der Professor. Doch da tauchte auch schon der Besucher auf. Hingstenberg bot an, zunächst einen kleinen Imbiss zu nehmen. Nebenbei könne man sich ja in den Fall hineinreden. Er war eben ein Mensch, der es gemütlich liebte.
Der Gast war jedoch wenig geneigt und beantwortete das gut gemeinte Angebot auf seine Weise: „Wo haben Sie ihn?“
Also begaben sich die drei Kriminalisten ohne zweites Frühstück direkt in das Untergeschoss des roten Backsteinbaues und betraten unter Hingstenbergs Führung einen kühlen, hell gefliesten Raum. Zwei OP-Lampen an der Decke verbreiteten eindringlich sterile Helligkeit. Nur wenig Mobiliar dämpfte den Hall, man sprach unwillkürlich mit leiser Stimme. In der Mitte des Raumes lag unter einem blassgrünen Laken ein Körper, auf einem Rollwagen daneben ein abgearbeiteter alter Wanderstiefel mit geplatzten Nähten, erheblich mit Erdresten verschmutzt. Aus ihm ragte bizarr der zersplitterte Rest einer Unterschenkel-Prothese, rechts daneben befand sich in einem durchsichtigen Asservatenbeutel alles, was dem Toten zuzuordnen war und vielleicht Bedeutung für diesen Fall haben könnte. Bläulich begann plötzlich zu schniefen, musste heftig niesen und schnäuzte sich geräuschvoll.
„Desinfektionsdämpfe!“, entschuldigte der Professor leise diese ungewollte Störung der Totenruhe. Dann entfernte er das blassgrüne Laken.
Etliche Sekunden blickten die Besucher stumm auf den deformierten zerschundenen Körper eines älteren Mannes. Der ebenfalls zersplitterte Ansatz einer hölzernen Unterschenkelprothese, wie sie in der Nachkriegszeit gefertigt wurde, wies auf Zugehörigkeit des entsprechenden Stummels in dem Wanderstiefel auf dem Rollwagen hin.
Hingstenberg deutete auf Bläulich, dieser eröffnete mit belegter Stimme die Leichenschau: „Die Personalien sind einwandfrei festgestellt. Als wir erkannten, um wen es sich da handelt, haben wir sofort Ihre Dienststelle verständigt und Nachrichtensperre verhängt. Zur Todesursache weiß der Professor genaueres.“
Dielmann sagte kein Wort, sondern richtete seinen Röntgenblick auffordernd dem Pathologen zu.
Dieser berichtete: „Obwohl der Tote dem Augenschein und seinem Zahnschema nach einwandfrei identifiziert wurde, haben wir zur Sicherheit einen DNA-Test veranlasst, denn offensichtlich waren die Kuppen von Daumen und Zeigefinger der rechten Hand operativ durch glatte Haut aus dem Bauchbereich ersetzt worden. Ob unfallbedingt oder aus anderen Gründen lässt sich nicht sagen. Sehen Sie hier“, er nahm die rechte Hand des Toten und spreizte mit Mühe deren steife Finger, so dass die Kuppen zu sehen waren, „so etwas ist uns nur von der Mafia der fünfziger Jahre und manchen östlichen Geheimdiensten bekannt. Dadurch waren Fingerabdrücke bei entsprechend vorsichtiger Vorgehensweise praktisch nicht identifizierbar! Dann hat er noch ein auffälliges Zahnbild, wahrscheinlich verursacht durch ständiges Pfeiferauchen. Sehen Sie hier“, dabei deutete er auf den rechten Mundwinkel und spreizte mit einem Stäbchen die Lippen des Toten. „Die Zähne sind besonders im rechten Mundwinkel bräunlich verfärbt und stehen dort auffallend schief. Die Spurensicherung hatte auch eine Feinschnittpfeife und das übliche Zubehör in den Taschen des Unglücklichen gefunden. Ein Sturz über einen etwa 90 Meter tiefen Steilhang verursachte zahlreiche Brüche, Prellungen und Schürfwunden. Aber sehen Sie selbst! Der sieht aus, als sei er durch einen Steaker gepresst worden! Die rechte Schulter ist ausgekugelt, das Schlüsselbein zerschmettert. Durch die Wucht des Aufpralles wurde wohl auch die Prothese zersplittert.“
Bläulich ergänzt spontan: „Ein Waldarbeiter war durch den alten Stiefel auf einer Hecke aufmerksam geworden. Die Nachsuche führte dann zu der Leiche.“
Dielmann nickte und wand sich dann wieder dem Professor zu: „Genaue Todesursache?“
„Genickbruch, höchstwahrscheinlich“, er machte eine bedeutsame Pause, „in Folge des tiefen Sturzes. Aber das ist noch nicht alles.“


 

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