Leseprobe:
Ruma (Melanie Buhl)

Prolog

Mörderisches Geschrei riss mich aus dem Schlaf. Voller Panik sprang ich auf und rannte zu dem mit dichten Vorhängen zugezogenen Fenster. Mit aller Kraft zog ich den schweren Stoff beiseite. Was ich draußen sah, ließ mir das Blut in den Adern gefrieren. Der Himmel glühte orangerot vom Feuerschein, der seinen Ursprung im übernächsten Tal, das die Grenze markierte, hatte. Riesige Flammen loderten gen Himmel und beißender Rauch zog über das Land herauf zu uns. Ich sah, wie die Wachen das schwere Burgtor öffneten. Rußverschmiert und mit verbrannten Gewändern stürmten unsere Krieger von draußen in den geräumigen Burghof. König Haldor mitten unter ihnen. Das Burgtor wurde hinter den Männern sorgsam wieder verschlossen. Vermutlich waren die Feinde unseren Kriegern dicht auf den Fersen.
Ich zog die Vorhänge wieder zu, warf mir einen langen Mantel über und rannte hinunter in den Burghof.
Dort sah ich König Haldor, der seine Rede mit deutlichen Gesten untermalte: „Ich stand direkt vor ihm! Unsere Waffen hieben bereits aufeinander und ich war sicher, heute würde ich ihn besiegen, als ein donnernder Schlag und ein greller Blitz uns auseinandertrieben! Thor hatte seinen mächtigen göttlichen Hammer zwischen uns geworfen. Er traf eine alte Eiche, die mit schaurigem Ächzen längs des Stammes auseinanderbrach und danach in Flammen aufging. Rusow und ich sprangen gleichzeitig zurück und als das Feuer auf die anderen Bäume übergriff, rannten wir beide um unser Leben.
Jeder zog sich zurück auf sein Gebiet und wir riefen auch unsere Krieger dorthin.“
Ich schauderte. Eine Schlacht so dicht an unserer Burg? Das hatte es, so lange ich mich erinnern konnte, nicht gegeben. Waren die Riesen mit ihrem König Rusow wirklich geflohen oder schlichen sie sich in diesem Moment, im Schein des Feuers, an die Burg heran? Angst ergriff mich. Was würde passieren, wenn die Riesen unser Heim eroberten? Würden sie uns alle umbringen? Die Frauen und Mädchen womöglich vergewaltigen? Da war der Tod sicher das bessere Los. Den grausamen Riesen war das alles ohne Weiteres zuzutrauen. Die alten Geschichten waren voll gruseliger Begebenheiten, die von den gewaltbereiten und tölpelhaften Riesen handelten. Niemand von uns wollte so etwas erleben.
Der Wind trieb die Flammen dichter und dichter an unser Zuhause heran. Der beißende Rauch nahm uns die Luft zum Atmen. Trotzdem standen wir, die Bewohner von Sachsenstein, wie erstarrt im Burghof und sahen entsetzt auf die sich näherfressenden Flammen, als es erneut einen Donnerschlag gab. Der Himmel öffnete sich und schleuderte sein Wasser nur so heraus! In Minutenschnelle war der Brand gelöscht, aber der Regen hörte nicht auf. Wir zogen uns unter die überdachten Bereiche des Hofes zurück, doch der Regen erreichte uns bald auch dort. Haldor schrie, wir sollten uns ins Innere der Burg zurückziehen. Wir gehorchten – wie es sich für gehorsame Untertanen gehörte.
Tagelang prasselte der Regen auf uns herab.
Waren die feindlichen Riesen noch in der Gegend, als die Sonne endlich wieder hervorkam? Das war die drängendste Frage, die uns umtrieb.

Ich bin Ruma

Vor undenklich langer Zeit, als Zwerge und Riesen unser Land bewohnten, als selbst Menschen noch die wahre Magie fühlen konnten, da nahm meine Geschichte ihren Anfang.
Mein Name ist Ruma, ich bin die Tochter des letzten Zwergenkönigs Haldor und seiner Königin Narima, die in Wirklichkeit ein Wassergeist war.
Heute bin ich ein Geist des Wassers oder wie meine Art in manchen Gegenden der Menschen genannt wird, eine Nixe, Nymphe oder Meerjungfrau.
Das mit der Jungfrau ist zwar so nicht ganz richtig, denn ich hatte einst einen Geliebten und sogar einen Sohn, aber ich lasse es so gelten. Die Menschen wissen es nicht besser und können es auch nicht verstehen, denn die uralten Kenntnisse von der Wandelbarkeit der Geschöpfe sind ihnen schon lange abhandengekommen.
Geboren wurde ich als menschenähnliches Mischwesen. Wie es dazu kam, dass ich heute nur als Wassergeist mein Dasein friste, möchte ich euch gern erzählen.

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