Leseprobe:
"Weihnachten durch die Lesebrille" Manfred Piepiorka

Ein festgefrorener Schwan

Bekannt ist die Stadt, in der die nachfolgende Geschichte spielte, durch die Kanalüberführung über den Fluss, der sie durchfließt. Damals traten die Wasser des Flusses Mitte Dezember über seine Ufer. Sie überschwemmten weite Gebiete der Flutwiesen.
Der Winter brachte ein paar Tage vor Weihnachten genug Frost, um diese Wasseroberflächen in stabiles Eis zu verwandeln. Das passierte nicht allzu oft. In der Nacht zum Heiligen Abend bescherte die Natur dem Landstrich zudem noch eine ordentliche Portion Schnee. Die Menschen erlebten eine seltene weiße Weihnacht.

Wie in den zuvor vergangenen Jahren spazierten Leon und sein Vater auf der Promenade am Fluss entlang. Es war bereits weit nach der Mittagszeit. Die Mutter schickte sie außer Haus. Sie wollte den Weihnachtsbaum in der Wohnstube herrichten. Und Männer stören da nur, meinte sie.
Unter den Schuhen von Vater und Sohn knirschte der in der Nacht frisch gefallene Schnee. Beide genossen die wunderbare Stimmung. Sie erfreuten sich an den bunten Lichtern der allgegenwärtigen Weihnachtsbeleuchtung in den Straßen und in den Häusern. Darüber hinaus an den verlockenden Düften, die ihnen jeder Windhauch zuführ­te.
Kurz bevor Leon und sein Vater den Aufgang zur der den Fluss überquerenden Brücke erreichten, beobachteten sie mehrere Schwäne auf der anderen Flussseite. Die großen Vögel trippelten unruhig auf der Eisfläche hin und her. Ein Schwan verharrte jedoch einige Meter von den anderen entfernt stets an der gleichen Stelle. Nur hin und wieder bewegte er matt seine Flügel.
Das fiel den beiden Spaziergängern natürlich auf. Aufgeregt fragte der Junge plötzlich: „Papa, ist der arme Schwan dort festgefroren?“
Sein Vater schüttelte den Kopf. Erklärend meinte er: „Wohl kaum, Leon, dass passiert diesen Vögeln nicht.“
Ihn mehr oder weniger widersprechend vernahmen er und sein Sohn gleich darauf mehrere Stimmen. Sie stamm­ten von Menschen, die auf der Brücke am Geländer standen. Offensichtlich hatten diese auch den Schwan bemerkt, denn sie redeten ebenfalls von einem festgefrorenen Schwan. Ein Mann behauptete einige Male laut rufend: „Hilfe ist bereits unterwegs.“
Seine Aussage bestätigte sich umgehend. In der Seitenstraße am Brückenende hielt ein Feuerwehrauto. Wenig später begaben sich zwei Einsatzkräfte aufs Eis. Bis auf den einen Schwan vergrößerten die anderen Schwäne ihren Abstand zu den Menschen. Dieser Vogel stand auch nicht auf. Er erhob sich nur kurz und sackte wieder aufs Eis zurück. Offensichtlich war er mit einem Fuß im Eis gefangen.
Kamen die beiden Feuerwehrmänner ihm jedoch nahe, streckte er seinen Kopf abwehrbereit vor. Unüberhörbar zischte das Tier laut und zornig. Obwohl am Ende seiner Kräfte schlug es kurzzeitig wild mit den Flügeln.

Vermutlich versuchte der Schwan schon eine Weile vergeblich, frei zu kommen. Einige Federn der Schwin­gen wiesen sogar Blutspuren auf. Man konnte die Flecken deutlich erkennen.
Die zwei Feuerwehrleute besprachen sich. Wenige Augenblicke später lief einer von ihnen zurück zum Einsatzfahrzeug. Aus einem Fach entnahm er eine Decke. Damit kehrte er zu seinen Kameraden zurück.
Während dieser den Wasservogel ablenkte, warf er die Decke über den verletzten Schwan. Das geschwächte Tier ergab sich bald seinem Schicksal. Es sträubte sich nicht mehr so heftig gegen den Griff der Männer. Dennoch vermochten die beiden Feuerwehrleute immer noch nicht, den Schwan anzuheben. Ein Fuß des großen Vogels steckte tatsächlich fest.
Das folgende Vorgehen des einen Feuerwehrmannes irritierte die Beobachter. Er ließ seinen Kameraden allein und ging erneut zum Fahrzeug zurück. Dort unterhielt er sich mit seinem Einsatzleiter. Anschließend entnahm er etwas aus einem Fach des Feuerwehrautos. Als er sich umwendete, durchfuhr den Zusehenden ein furchtbarer Schreck.
In der Rechten hielt der Mann einen kräftigen Bolzenschneider. Ein Schaulustiger schrie voller Empörung: „Das darf doch wohl nicht wahr sein! Sie können dem Tier doch nicht einfach den Fuß abtrennen!“
Weitere Proteste wurden laut. Es kam Bewegung in die Zuschauergruppe und es waren durchaus Handgreiflichkeiten zu befürchten. Der Einsatzleiter der Feuerwehr kam dem zuvor. Er gesellte sich zu den Menschen auf der Brücke. Mit beruhigender, deutlich vernehmbarer Stimme forderte er sie auf: „Stopp, meine Herrschaften! Beruhigen Sie sich! Sie sehen das sicherlich falsch. Ich erkläre es Ihnen.“
Die Empörten ließen sich beschwichtigen. Erwartungsvoll lauschten sie schließlich den von vielen Gesten begleiteten Erklärungen: „Liebe Leute, nicht der Fuß des Schwans soll abgetrennt werden. Er ist auch gar nicht fest­gefroren. Nein, er steckt in einer Schlinge aus dünnem Draht fest. Diese müssen wir durchtrennen.“
Die „Ahas“ und „Ohs“ der Zuhörenden abwartend er­klärte der Einsatzleiter dann weiter: „Wissen Sie, diese Schlingen sind Teufelsdinge, die einige Wilderer einsetzen. Damit wollen sie Wildkaninchen fangen. Über diese Leute müsst ihr wütend sein. Ja, aber nicht über uns.“
Die Befreiung des Schwans dauerte dann auch nur noch Sekunden. Mit dem nun ruhigen Vogel auf dem Arm schritten die Feuerwehrleute etwas später an den begeistert Beifall klatschenden Personen entlang. Auf Anfrage erklärten sie, sie würden das verletzte Tier zum Tierarzt bringen.
Die abrückenden Feuerwehrleute begleiteten mehr­stimmig ausgerufene „Frohe Weihnachten!“

Auch Leon hatte die Aktion genauestens verfolgt. Nun drückte er die Hand seines Vaters: „Papa, die Rettung des Schwans ist wie ein Weihnachtsgeschenk. Gut, dass Mama uns rausgeschickt hat. Ich will aber jetzt nach Hause. Der Weihnachtsbaum ist bestimmt schon geschmückt.“

Der Vater nickte. Langsam stapften die zwei den Weg zurück. Einige Augenblicke später fragte der Junge: „Sag mal, Papa, du wusstest, dass der Schwan nicht festgefroren war. Warum?“
Der Gefragte erklärte: „Tja Leon, in einer Fernsehsen­dung wurde das Thema mal angesprochen. Weißt du, die Natur hat sich da richtig was einfallen lassen. Wasservögel sind an solch widrige Umstände, wie Frost und so, bestens angepasst. In den federlosen Beinen und Füßen liegen Adern mit warmem Blut und Adern mit kaltem Blut dicht beieinander. Die Füße bleiben daher stets mit relativ gleichmäßig kühlem Blut gut durchspült. Durch diesen Trick gibt keines der Tiere besonders viel Wärme über die Beine nach außen ab. Daher schmilzt das Eis unter den Füßen der Schwäne nicht. Und natürlich entsteht somit keine Flüssigkeit, in der sie festfrieren könnten.“
Der Junge schaute seinen Vater an und meinte: „Toll, Papa, was Du dir alles merkst.“

 


zurück