Leseprobe:
Nimm dich vor den Muursöök in Acht (Michaela Schreier)

Traust du dich?
Dann geh mit mir auf eine dunkle Reise,
eine, die dich schaudern lässt,
auf ganz besond´re Weise.

Eine Reise
in die Schattenwelt,
voller Wahnsinn, Furcht und Grauen,
in der kein Licht den Tag erhellt.

Traust du dich?
Dann wage dich in die Dunkelheit hinein,
bestehe mutig Abenteuer,
ohne laut zu schrei´n.

Stell dich den Geschöpfen der Nacht,
die mit langen Krallen locken,
nimm dich vor ihnen bloß in Acht,
ob sie schon unter deinem Bette hocken?

Traust du dich?
Dann lass mich dich das Fürchten richtig lehren,
einer schönen Gruselei
kann man sich doch nicht verwehren.

Tritt nun ein
in mein Reich der dunklen Fantasie,
hier – wo´s kalt und düster ist
und grusel dich wie noch nie!

- Michaela Schreier -

Auszug aus der Titelgeschichte "Nimm dich vor den Muurspöök in Acht ...

... Ich weiß es noch wie heute. Ich war zehn Jahre alt und hockte wieder bei Uroma in der warmen Stube. In ihrem kleinen Holzofen brannte ein knisterndes Feuer und sie saß häkelnd in ihrem Lieblingssessel. Ich lag auf dem Teppich und malte. Uroma schaute auf, betrachtete mein Bild und fragte: „Was malst du denn Schönes?“„Das ist eine Moorhexe! Hier – kannst du sie jetzt erkennen?“ Ich reckte mich und hielt ihr mein Kunstwerk entgegen.
Mmh mmh“, machte Uroma und kniff die Augen zusammen, um besser sehen zu können. „Die sieht aber sehr unheimlich aus!“
„Findest du?“, fragte ich und freute mich über ihr Lob.
„Ja, der möchte ich wirklich nicht im Dunkeln begegnen“, lachte sie und lehnte sich wieder in ihrem Sessel zurück.
„Haben Moorhexen eigentlich vor irgendetwas Angst?“, fragte ich und malte weiter. Dabei bemerkte ich nicht, wie meine Uroma langsam ihre Häkelnadel sinken ließ und mit gedankenverlorenem Blick aus dem Fenster schaute. „Vor den Muurspöök nehmen sogar die Moorhexen Reißaus!“, flüsterte sie.
Ich horchte auf. „Was sind denn die Muurspöök?“ Erwartungsvoll ließ ich die Malstifte liegen und setzte mich im Schneidersitz zu Uromas Füßen. Und dann begann sie, mit leiser Stimme zu erzählen.

„Die Muurspöök sind das Schlimmste, was sich jemals in den Mooren herumgetrieben hat. Die Alten in unserem Dorf nannten sie auch ,Seelfreter‘. Das bedeutet ,Seelenfresser‘. Die Muurspöök verstecken sich im aufgeweichten Morast und warten nur darauf, arme verirrte Menschenseelen zu schnappen und sie in ihr dunkles Reich zu ziehen. In ihrer wahren Gestalt sehen sie fürchterlich aus! Sie sind über und über mit schwarzem Schlamm bedeckt und ihre langen Haare kleben an ihren hageren, seltsam verformten Körpern. Sie haben lange, scharfe Klauen, mit denen sie ihre Beute fest packen und in wenigen Sekunden zerreißen können. Sie stinken barbarisch, nach altem Schlamm und Verwesung und ihre Augen glühen wie rote Kohlen. Sie können für kurze Zeit ihr Aussehen verändern und viele verschiedene Gestalten annehmen. In Form von schneeweißen Einhörnern, wunderschönen Jungfrauen oder weinenden Babys locken sie die Menschen tief in das Moor hinein. Haben sich die armen Leute erst einmal verirrt, nehmen die Muurspöök ihre hässliche Gestalt wieder an und jagen sie so lange, bis sie sie mit ihren kräftigen Klauen zu greifen bekommen. Dann saugen sie ihnen die Seele heraus und lassen die leeren Körper im Moor versinken. Viele Menschen sind damals in den Mooren umgekommen und in unserem kleinen Dorf machte man die Muurspöök dafür verantwortlich.

Ich kannte all diese Geschichten und mied das Moor, so gut es ging. Jedes Mal, wenn ich Botengänge für meine Mutter erledigen musste, machte ich einen großen Bogen um die morastigen Landstriche. Während meine älteren Geschwister auf dem Feld und in der Küche helfen mussten, war es meine Aufgabe, zum nächstgelegenen Hof oder Dorf zu laufen, um Besorgungen zu erledigen. Im Frühling und Sommer liebte ich es, kilometerweit durch die einsame Natur zu streifen. Doch im Spätherbst und an kalten Wintertagen waren diese Botengänge nicht besonders angenehm.

Genau an so einem trüben Herbsttag schickte mich meine Mutter zu der alten Käthe, deren Hof ungefähr sechs Kilometer von unserem entfernt lag. Käthe war eine uralte Kräuterfrau und lebte allein mit ein paar Hühnern und Enten in einem kleinen Bauernhaus. Die Leute aus unserem Dorf hielten sie für nicht ganz richtig im Kopf. Man munkelte, dass sie so etwas wie eine Hexe sei und jeden in Nullkommanichts in eine schleimige Kröte verwandeln könnte. Meine Mutter war die Einzige, die nicht auf dieses Gerede hörte und der Alten ab und zu einen Besuch abstattete. Mich nahm sie oft mit und ich fand die alte Käthe alles andere als unheimlich. Ich konnte nicht verstehen, warum die anderen ihr so sehr misstrauten. Mir hatte sie jedenfalls nie ein Haar gekrümmt – im Gegenteil, sie war sogar stets sehr nett zu mir.

Trotz ihrer sagenumwobenen Heilkräfte hatte sich die alte Käthe eine schlimme Erkältung eingefangen und ich sollte ihr deshalb Holundersaft und ein paar frische Kräuter bringen. Ich zog mir also meinen warmen Mantel an, setzte mein Kopftuch auf und machte mich mit dem Bündel auf den Weg. Es war bereits Nachmittag und meine Mutter trieb mich zur Eile an, damit ich vor der Dunkelheit wieder zu Hause war. Schnellen Schrittes wanderte ich die vertrauten Feldwege entlang und kam nach ungefähr einer Stunde auf dem einsamen Bauernhof an. Die alte Käthe lag hustend im Bett und freute sich sehr über meinen Besuch. Ich setzte mich auf ihre Bettkante und reichte ihr das Bündel. Sie bedankte sich mit heiserer Stimme für die guten Sachen, die meine Mutter ihr eingepackt hatte. Dann kramte sie in ihrem Nachtschränkchen herum und hielt mir plötzlich ein kleines Amulett vor die Nase, das an einem dünnen Kettchen hing.
„Hier mein Kind“, sagte sie und streifte mir die Kette über den Kopf, „nimm das für deine Mühe. Es soll dich auf all deinen Wegen beschützen.“
Ich nahm das Amulett in die Hand, um es genauer betrachten zu können. Es war aus glänzendem Silber. Ein schlangenartiger Drache war darauf abgebildet, umgeben von fremden Schriftzeichen, die ich nicht entziffern konnte.
„Das kann ich doch nicht annehmen“, murmelte ich und machte Anstalten, die Kette wieder abzunehmen.
Doch die alte Käthe hielt meinen Arm fest und flüsterte: „Du bist ein gutes Kind. Das weiß ich genau. Also erfülle einer alten Frau einen Wunsch und nimm mein Geschenk an.“
Ich bedankte mich schüchtern und ließ die hübsche Kette unter meinem Kittel verschwinden.
Als ich mich verabschiedete, hielt mich Käthe erneut am Arm fest. Sie sah mich ernst an und flüsterte: „Es ist schon fast dunkel und der Nebel zieht bereits auf. Lauf schnell nach Haus und komm nicht vom Weg ab. Denk an die Tücken des Moores und nimm dich vor den Muurspöök in Acht!“

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