Untertitel:
Erlebnisse und Nachwirkungen von jungen Menschen auf dem Weg in
den Westen.
Hauptbeschreibung
I. Einleitung Es gibt wohl kaum eine Familie in Deutschland, die
nicht unmittelbar in ihrer Familiengeschichte Angehörige hatte
oder hat, die aus den ehemaligen Deutschen Ostgebieten stammten.
Die Geschichte von Flucht und Vertreibung der Menschen aus den Deutschen
Ostgebieten ist eine Vergangenheit, die uns alle angeht. Der Einfluss
der Ostdeutschen in Deutschland nach dem Zweiten Weltkrieg ist und
war groß. Noch heute begegnen wir tagtäglich Spuren,
die an die Ostgebiete und ihre reiche Kultur erinnern. Denken wir
doch einmal an die vielen Straßennamen, die nach den Ostgebieten
oder ihren Städten nach dem Krieg benannt wurden. Auch kulinarische
Erinnerungen wie die Königsberger Klopse, das Schlesische Himmelreich
oder die Pommersche Leberwurst sind immer noch allgegenwärtig.
Die Traditionen und die Kultur wurden auch von sogenannten Landsmannschaften,
die sich nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges gründeten, bewahrt.
Diese Vertriebenenorganisation, die es von jeder Region des Deutschen
Ostens gibt, sind daher immer noch für die damaligen Heimatvertriebenen
und auch wieder für ihre Nachkommen identitätsstiftend.
Meine Vorfahren stammen aus so gut wie jeder Region des Deutschen
Ostens. Egal ob aus Schlesien, Pommern, Posen, dem Sudetenland oder
aus Ostpreußen, meine Wurzeln liegen größtenteils
hinter Oder und Neisse. Obwohl ich die zweite (Vaters Seite) oder
dritte Generation (Mutters Seite) nach der sogenannten Erlebnisgeneration
bin, fasziniert und interessiert mich schon seit meiner Kindheit
die Geschichte meiner Familie und die des Deutschen Ostens. Vielleicht
kam mein Interesse mit dem mangelnden Wissen über die Ahnen,
die östlich von Oder und Neiße beheimatet waren. Nur
meine eine Ur-Oma mütterlicherseits und meine Oma väterlicherseits
sind seit jeher in Niedersachsen verwurzelt. Der Großteil
der Familie ist somit nicht aus meiner Heimat. Ich habe mich schon
früh gewundert, wieso es von vielen Familienangehörigen
nur einige wenige Fotos gab und diese Fotos nur ein Tropfen auf
dem heißen Stein sind. Heute weiß ich, dass meine Vorfahren
oft nicht mehr als ein paar Fotos oder kleine persönliche Dinge
auf die Flucht mitnehmen konnten, wenn überhaupt. Manche Vorfahren
von mir nahmen auf die Flucht eigentlich nur Essen mit und keine
Erinnerungsstücke, da ein halbwegs voller Magen wichtiger war,
als sich an Objekten zu erfreuen, wie mir erzählt wurde. Trotzdem
fand ich es immer schade, wenn Freunde mir Objekte aus der Familiengeschichte
zeigten und ich so etwas so gut wie nicht vorweisen konnte, da es
kaum etwas gab. Es ging dabei nicht um den materiellen, sondern
nur um den ideellen Wert. Leider gerät der Deutsche Osten in
der deutschen Erinnerungskultur, besonders da die Erlebnisgeneration
ausdünnt, ein wenig in Vergessenheit. Die Geschichte des Deutschen
Ostens müsste noch viel mehr thematisiert werden. Fragt man
heute junge Menschen in meinem Alter, wo beispielsweise Ostpreußen
liegt oder ob sie Schlesien kennen, wird man in den meisten Fällen
keine Antwort bekommen. Der Deutsche Osten ist im kollektiven Gedächtnis
der Gesellschaft noch kaum greifbar. Um nur ein Beispiel zu nennen,
alle Welt spricht vom Untergang der Titanic im Jahr 1912 mit zirka
1517 Toten, der ohne Zweifel eine Tragödie war, aber der Untergang
des Flüchtlingsschiffs Wilhelm Gustloff 1945 war
mit seinen 9343 Toten eine deutlich schlimmere Katastrophe, die
der Gesellschaft fast nicht mehr präsent ist.1 Daher finde
ich, dass die Flucht und Vertreibung aus dem Deutschen Osten wieder
mehr Raum in der Gesellschaft bekommen sollte. Wichtig ist dabei
Heimatkunde zu prägen und Heimattraditionen zu pflegen und
das ganz ohne revanchistische Hintergedanken. Der Historiker Andreas
Kossert, der unter anderem die Bücher Ostpreussen,
Kalte Heimat und Flucht verfasst hat, thematisiert
darin mitunter das Thema Flucht und Vertreibung aus dem Deutschen
Osten, die Ankunft im Westen und die Eingliederung der Heimatvertriebenen
im heutigen Gebiet der Bundesrepublik. Kosserts Werke werden in
dieser Arbeit auch eine wichtige Rolle spielen und auch einen Schwerpunkt
setzen. Zu Flucht und Vertreibung aus dem Deutschen Osten entstanden
bereits seit dem Ende des Krieges zahlreiche Publikationen. Heutzutage
findet man somit eine Vielzahl von Monographien und Sammelbänden,
die dieses Thema behandeln. Auch viele Zeitzeugenberichte und Quellensammlungen
wurden besonders in den ersten Jahrzehnten nach dem Krieg zusammengetragen.
Besonders erwähnenswert ist dabei der erste Band von Theoder
Schieder mit dem Namen Dokumentation der Vertreibung der Deutschen
aus Ost-Mitteleuropa, der in dieser Arbeit ebenso eine wichtige
Rolle spielen wird. In meiner Bachelorarbeit soll es aber nicht
um den gesamten Deutschen Osten gehen, da dieser Bereich zu groß
gefasst wäre, sondern nur um Ostpreußen. Die Provinz
Ostpreußen war zwar lange Zeit kaum von Kriegseinwirkungen
betroffen, dafür wurde sie aber mit dem Einmarsch der Roten
Armee am 16. Oktober 1944 und der Zunahme der Luftangriffe ab dem
Sommer 1944, umso schwerer getroffen. Da die Rote Armee mit dem
Einmarsch in Ostpreußen erstmals deutschen Boden betrat, wurde
Ostpreußen mit seiner Bevölkerung besonders stark in
Mitleidenschaft gezogen. Spätestens mit dem Einmarsch
der Roten Armee begannen auch immer mehr Menschen ihre Heimat zu
verlassen. Einige Menschen waren bereits vor dem Einmarsch aus ihrer
Heimat geflohen und konnten ohne viele Hindernisse Ostpreußen
verlassen, für andere Bewohner wiederum wurde die Flucht zur
vielleicht größten Hürde ihres Lebens, da für
sie die Flucht zu spät begann. Viele Ostpreußen wurden
von der Roten Armee immer weiter eingekesselt und auf der Flucht
eingeholt. Nicht nur die Rote Armee im Nacken und die erschwerten
Fluchtbedingungen, sondern auch der harte Winter 1945 wurde für
viele Ostpreußen zur Zerreißprobe.2 Von den 2,4
Millionen Menschen, die Anfang 1944 in Ostpreußen lebten,
unternahmen etwa 1,8 Millionen einen Fluchtversuch vor der heranrückenden
Roten Armee.3 Unter allen deutschen Provinzen musste Ostpreußen
die höchsten Menschenverluste erleiden. Zirka eine halbe Million
Ostpreußen überlebten den Krieg und seine Folgen nicht.
Wenn man bedenkt, dass Ostpreußen im Jahr 1939 zirka 2,49
Millionen Einwohner hatte, ist die Zahl der Todesopfer im Verhältnis
gewaltig.4 Flucht, Verschleppung, Lager, Vertreibung, Hunger
und Kälte: Diese Erfahrungen standen für das letzte Kapitel
Ostpreußens.5 An dessen Ende versanken siebenhundert
Jahre deutscher Geschichte zwischen Weichsel und Memel unter den
Trümmern des Dritten Reiches.6 Vierzehn Millionen
deutsche Vertriebene treffen nach Kriegsende in Restdeutschland
ein, ein kleiner Teil in Österreich, daran lässt
sich das Ausmaß dieser Bevölkerungsverschiebung erahnen.7
In meiner Bachelorarbeit liegt der Fokus auf den jungen Menschen
aus Ostpreußen, die all diese Geschehnisse mehr oder weniger
erlebt haben. Die Schicksale der Heimatvertriebenen sind sehr facettenreich.
Jeder Mensch erlebte die Flucht und Vertreibung anders und nahm
sie auch unterschiedlich wahr. Obwohl die Flucht und Vertreibung
immer individuell erlebt wurde, gab es unter den Heimatvertriebenen
aber auch gewisse Muster, die in dieser Arbeit näher erforscht
werden. In meiner Bachelorarbeit sollen von diesen Millionen
Fluchterfahrungen, einige näher untersucht werden. Daher habe
ich im Rahmen dieser Forschungsarbeit vier Zeitzeugeninterviews
mit Menschen durchgeführt, die damals in jungen Jahren aus
ihrer Heimat Ostpreußen geflohen sind. Eines der Interviews
habe ich mit zwei Schwestern durchgeführt, daher wird dieses
Interview auch nur zusammen ausgewertet. Ich habe zu meinen Zeitzeugen
ein sehr gutes Verhältnis. Inge Teiwes beispielsweise ist meine
Tante, Ingeborg Eggers, Gisela Ehrenberg, Günther Grigoleit
und Ilse Kuhrau kenne ich durch die Landsmannschaft Ostpreußen
Gruppe Holzminden, in der ich, durch mein großes Interesse
an Ostpreußen, seit 2017 Mitglied bin. Durch meine langjährige
Mitgliedschaft konnte ich über die Zeit teilweise enge freundschaftliche
Beziehungen zu den Mitgliedern aufbauen. Für mich sind die
Treffen der Landsmannschaft Ostpreußen Gruppe Holzminden
immer ganz besondere Momente, die mir sehr viel bedeuten. Umso glücklicher
bin ich, dass vier dieser Mitglieder sich sofort für ein Interview
bereit erklärt haben. Alle Zeitzeugen wurden mit den gleichen
Fragen interviewt. Dadurch kann man die Aussagen, Emotionen und
Erlebnisse besser miteinander vergleichen. Es wird also eine Forschungsarbeit
werden, die sich primär mit Quellen in Form von Zeitzeugeninterviews
und Monographien beschäftigt. Die Interviews sollen den Grundstein
der Arbeit legen. Im Fokus steht dabei, wie die Zeitzeugen die Flucht
aus Ostpreußen erlebt haben, welche Emotionen sie hatten,
was für Ängste und Probleme sie vielleicht überwinden
mussten und wie sie die Ankunft im Westen erlebten. Viele der Quellen,
die man in der Literatur findet, sind aber Zeitzeugenberichte
von Ostpreußen, die damals als Erwachsene die Flucht und Vertreibung
aus Ostpreußen miterlebt haben. Nur wenige Quellen handeln
von Erlebnissen von damals jungen Menschen. Daher müssen zum
Teil auch Aussagen von damals Erwachsenen mit herangezogen werden.
Besonders in den letzten Jahren entstanden aber auch viele Autobiografien
von älteren Menschen, die ihre Erinnerungen an die Flucht und
Vertreibung, die sie als junge Menschen erlebten, aufschrieben.
Neben den Quellen möchte ich mit der jeweiligen Fachliteratur
die Aussagen der Zeitzeugen bestätigen, widerlegen und kritisch
untersuchen. Die Bachelorarbeit wird unter folgender Fragestellung
bearbeitet: Wie erlebten junge Menschen aus verschiedenen
Regionen Ostpreußens die Flucht und Vertreibung in den Westen
und wie prägten diese Erlebnisse das weitere Leben? Welche
Schicksale mussten sie durchleben und wie war ihre Ankunft in der
neuen Heimat? Ich möchte somit auch herausfinden, was
die Gedanken, Gefühle, Ängste und Sorgen der Menschen
während der Flucht und in der neuen Heimat waren. Unter den
verschiedenen Lebenslinien sollen somit Gemeinsamkeiten und Unterschiede
herausgearbeitet werden. Der untersuchte Zeitraum wird seinen
Schwerpunkt in der Zeit zwischen dem Sommer 1944 und dem Jahr 1948
haben, als die letzten untersuchten Zeitzeugen schließlich
im Westen ankamen. Ebenso wird auch ansatzweise das weitere Leben
und die Integration nach der Ankunft im Westen thematisiert.
Die Arbeit ist chronologisch gegliedert. Auf den ersten Seiten meiner
Arbeit werde ich meine Interviewpartnerinnen und -partner kurz chronologisch
nach ihren Geburtsjahren vorstellen. Dadurch soll sich der Leser
schon einmal ein Bild von den Personen machen. Danach werden die
Vorfluchtmomente der Menschen und die ersten Evakuierungsmaßnahmen
in Ostpreußen thematisiert. Dabei werden auch die schweren
Luftangriffe auf Königsberg im August 1944 eine Rolle
spielen. Im Hauptteil der Arbeit wird die Flucht in den Westen näher
untersucht. In diesem Teil werden allgemein die wichtigsten Fluchtmöglichkeiten,
wie beispielsweise über das zugefrorene Frische Haff oder über
den Seeweg erläutert. Zum einen wird also über die Bandbreite
von Fluchtmöglichkeiten geschrieben, wie ein Großteil
der Bevölkerung geflohen war, aber es wird auch individuell
geschaut, was die interviewten Zeitzeugen berichteten. Ebenso werden
auch die Gräueltaten der Sowjets thematisiert und wie die Deutschen
darunter gelitten haben. Anschließend wird auch ein Blick
auf die dänischen Flüchtlingslager geworfen, in denen
hunderttausende von Deutschen jahrelang interniert waren. Danach
geht es um die Ankunft der Flüchtlinge und Heimatvertriebenen
im Westen. In diesem Punkt werde ich genauer untersuchen, wie die
Ankunft für die Menschen war, wie die Flüchtlinge die
neue Umgebung wahrnahmen, wie die Einheimischen die Heimatlosen
behandelten und wann sich die Menschen in der neuen Umgebung integriert
fühlten. Die nächsten Punkte hinterfragen schließlich,
wie die Flucht und Vertreibung das weitere Leben der Menschen geprägt
hat und wie stark die Rückkehrhoffnung in die Heimat in der
Nachkriegszeit wirklich war. Ebenso wird auch die Heimatpflege der
Vertriebenen und die Rückkehr nach der Wende thematisiert.
Zum Schluss wird noch geschaut, ob die Zeitzeugen ihr jetziges Zuhause
auch als zweite Heimat oder als neue Heimat ansehen oder ob für
sie Ostpreußen immer noch die einzig wahre Heimat bleibt.
Gerade diese Frage wirft einen sehr emotionalen Blick auf ihre Gefühlslage.
Am Ende der Arbeit wird ein Fazit gezogen, indem ich meine
Ergebnisse noch resümiere und zusammenfasse und dabei auch
einen Ausblick geben. Bevor ich inhaltlich beginne, möchte
ich vorab ein paar grundlegende Definitionen zu Flucht und
Vertreibung klären. Die Flucht zu ergreifen, ist eine
freie Entscheidung, die aufgrund bedrohlicher äußerer
Umstände getroffen wird. [
] Todesangst ist wohl der wichtigste
Grund für den Entschluss, die vertraute Umgebung zu verlassen.
Vertriebene hingegen werden gegen ihren Willen gezwungen, ihre Heimat
zu verlassen.8 Wer nicht rechtzeitig flieht, liefert
sich womöglich der Willkür anderer aus. Die Übergänge
sind oft fließend, und so können Flüchtlinge am
Ende zu Vertriebenen werden.9 Angst, Hoffnungslosigkeit
und Erschöpfung, das ist es, wovon man in den Berichten von
Flüchtlingen vor allem liest.10 Vertreibung macht
aus Menschen Objekte fremden Willens. Ohnmächtig sind sie ihren
Gegnern ausgeliefert.11 Mit Blick auf die Flucht und
Vertreibung aus Ostpreußen und aus anderen Vertreibungsgebieten
muss erläutert werden, dass der Begriff Vertreibung sich nicht
nur auf die brutalen Vertreibungen im Sommer und Herbst 1945, sondern
auch auf die Evakuierung der deutschen Bevölkerung ab dem Herbst
1944, die Flucht im Frühjahr 1945 und auch auf die ab 1946
durchgeführten Zwangsumsiedlungen bezieht. Die Bezeichnung
Vertreibung ist also ein vielschichtiger Begriff.
Im Prinzip sind also alle Menschen, die damals durch den Zweiten
Weltkrieg ihre Heimat verlassen haben oder mussten zu Vertriebenen
geworden. Denn diese Menschen wollten nach dem Krieg wieder in ihre
Heimat zurückkehren.12 Sie wurden jedoch von den sowjetischen
und polnischen Behörden daran gehindert und eben deshalb zu
Vertriebenen gemacht.13
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Julian Patzer
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