Rezension
Dagmar Westphal Gedankenflugsand. Lyrik •zwischen Himmel und Erde.
Bilshausen (Fabuloso Verlag. Gudrun Strüber),

"Lyrik zwischen Himmel und Erde" - schon ins Englische gar nicht leicht zu übersetzen. Denn Dagmar Westphal meint beide "sky" UND "heaven".
"Rabbi Jesus" begegnet in einem der ersten Gedichte (S.7)

nicht um das Dunkel zu brechen
sondern es aufzu1den um uns
zu entfalten im Licht.

Prototyp der Jüngerschaft sind "Maria aus Magdala" (S 8) und ihr "weibliches Schweigen" -

in neuem Lichte bereit
nicht zu meiden den Streit.

Luthers Wort von den "Bettlern" aufnehmend, findet sich eine so positiv Umschreibung von Christentum und Kirche wie nur selten in jüngster Zeit Eine Sicht, die gewiss in der Kraft der Anfange gründet:
vieles fehlt ihnen dennoch
haben sie mehr als genug (S.9)

Eschatologisch bewegen sich die Gedichte zwischen schon ("Was wäre wenn S.5), fast ("unverhofft", 5.12) und noch nicht ("Wie wird es", S.29).
Bei letztgenanntem schillert das großgeschriebene "Sein" zwischen Universalverb und auf Gott bezogenem Possessivpronomen. Selbst ein (überaus verheißungsvoller) Ruf zur Umkehr fehlt nicht:

veränderten
Blickes
bekämst du
mühelos
lebenslänglich
frei
um zu sein (S.36)

Daraus erhellt, dass der gesellschaftskritische Blick der Lyrikerin durchgehend christlich grundiert ist.

nicht nötig dir
einen Namen zu machen --
du bist gehalten. (S.43)

So verweist sie auf Genesis 11, 1 - 8, die Geschichte vom Turmbau zu Babel. Das, was wir "Pflanzen","Tieren", "der Erde" antun, bleibt geradezu ausgeschlossen vom "Vergeben" (S.16), weil der von Jesus am Kreuz benannte mildernde Umstand (Lukas 23, 34) nicht geltend zu machen ist. Selbst das Gedicht "Neunter November" (S.62) über das schillerndste Datum deutscher Geschichte (Ausrufung der Republik, "Kristallnacht" Wiedervereinigung.) mündet in ein Gebet.
Weltflucht taugt allenfalls für eine humoristische Schlussstrophe (S.39)
Einer Ausflucht wie "aber muss es denn gleich sein" (S.65) begegnet der unerbittliche Titel "Kein Aber" (S.64). Das"Kontaktverbot" in Corona .Zeiten wird geradezu tierisch in Frage gestellt (S.19); "Kein Reim auf Maske"(S.20) lässt gleichwohl erschauern, wenn vom Schneemann nur letztere übrig bleibt.

Beiden Geschlechtern werden die Leviten gewiesen

Den Mannen mehr Herz
den Weibchen mehr Hirn! (S.15)

"sind seltener die Gedichte des Glücks", schrieb einmal Hilde Domin.
Dagmar Westphal gelingen sie auf Island (S.46, S.48).. Ganz zu schweigen von den Glanzstücken ihrer Liebeslyrik : "Novemberliebe" (S.67) mit der Infragestellung jeder Denk- und Fühlverbote: "Seelenmelodie" (S.34) mit der selbige zur Vollendung treibenden Alliteration der Schlu6zeilen.

Die Autorin schreibt herrliche Haiku
de großen Augen
des Kindes am Straßenrand
versunken im Müll (S.30)

und Tanka Dörfer verwehen,
- die Küstenlinie versinkt,
weitab bellt ein Hund.
Graugänse und Sturmmöwen
teilen sich mit mir das Brot. (S.45)

"Unterwegs" (S.49) und "Herbstlied" (S.57) stehen für den Melos des Reims in der Naturlyrik, für die ein Gedicht wie "Damals" (S.59) wieder eine ganze andere, nicht weniger eindrückliche Ästhetik entfaltet.
Das martialische "Wanderer kommst du nach Sparta" erfahrt seine so verspielte wie humoristische Brechung in "Wanderer" (S.52) / "Wanderin kommst du nach Celle" (S.53)

Sang Curd Jürgens "60 Jahre und kein bisschen weise" und Udo Jürgens "Mit 66 Jahren da fangt das Leben an", liefert Dagmar Westphal die Fortsetzung "Mit 77 Jahren" (S.58).
"Ich male den Himmel" (S.50) lese ich als den gebührenden Dank der Autorin für die acht zauberhaften Aquarelle, die Doris Wilke zu dem Band beigesteuert hat.
Eichendorffs Weihnachtsgedicht "Markt und Straßen stehn verlassen"
(erfährt eine Kontrafraktur, die die völlige Kommerzialisierung des Festes beklagt (S.68).
Nah an den romantischen Dichter heran führt die

"Heideweihnacht" (S.71)

Wintergoldhähnchen
wispern im Fichtendickicht
unter Laubdecken
schlummern Dachse und Igel
lärmende Stadt liegt weitab.

Zeit haben, aus der Zeit fallen, Zeitvertreib, mit der Zeit gehen, Zeit totschlagen – ein Strauß von Redeweisen und Paradoxa, die die Autorin in einem geradezu philosophischen Gedicht zusammenbindet
Die: Rätsel der Zeit
Ich bin nicht in ihr
denn ich habe sie nicht
bin aus ihr gefallen
hab sie vertrieben
haltet sie an
sie läuft mir davon
kann nicht mit ihr gehen
hab sie totgeschlagen (S. 54)


Rezension von Rüdiger Jung, Theologe


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