Leseprobe:
Die Rückwärtsuhr
(Sarina M. Lesinski)
Gefunden
Was gibt es Spannenderes für einen Jungen, als einen
Dachboden voller alter Möbel, Kisten und Kästchen, in denen
es sich nach Herzenslust herumstöbern lässt?
So war auch Florian an einem verregneten Ferientag auf den Dachboden des
kleinen Fachwerkhauses seiner Großmutter gestiegen und versuchte
die Schubladen einer alten Kommode zu öffnen, was ihm nur mit großer
Anstrengung gelang. Das alte Holz hatte sich etwas verzogen und gab seine
Geheimnisse nur widerwillig preis. Mit einem lauten Quietschen ließ
sich schließlich die oberste Schublade herausziehen.
Oh, oh, flüsterte Florian, hoffentlich hat Oma
das Quietschen nicht gehört. Er schlich zur Bodenleiter und
lauschte nach unten, wo seine Großmutter in der Küche das Mittagessen
zubereitete.
Noch mal gutgegangen, dachte Florian erleichtert und nahm sich vor, bei
seiner weiteren Erkundung vorsichtiger zu Werke zu gehen.
In der Schublade befanden sich zwei flache Kartons, von denen der eine
mit alten Schals und der andere mit ebenso alten Handschuhen gefüllt
war.
Wer hebt denn so altes Zeug auf, wunderte sich Florian und
war sichtlich enttäuscht. Vorsichtig zog er an der zweiten Schublade.
Sie klemmte ebenfalls, und da Florian kein erneutes Quietschen riskieren
wollte, zog er lieber die oberste Schublade ganz heraus, was ihm lautlos
gelang, und stellte sie neben die Kommode.
Dann hockte er sich hin und konnte nun von oben in die zweite Schublade
hineinsehen. Der Inhalt sah interessanter aus. In einem hölzernen
Kasten ohne Deckel lagen große goldfarbene Metallringe. Daneben
entdeckte Florian einen beinahe durchsichtigen Beutel, der anscheinend
aus einer alten Gardine genäht worden war. Und dieser Beutel war
mit unterschiedlich großen und in allen Farben des Regenbogens schimmernden
Glasmurmeln gefüllt. Florian streckte den Arm in die Kommode und
holte den Beutel heraus.
Puh, ist der schwer, stellte er fest und setzte sich mit seinem
Schatz auf eine braune Wolldecke, die er in einer Ecke des Dachbodens
gefunden hatte. Er schüttete den Inhalt des Beutels auf die Decke.
Durch das schräge Dachfenster schien die Sonne und ließ die
Murmeln funkeln wie bunte Edelsteine. Einige besonders große Murmeln
suchte Florian heraus, legte sie auf seine flache Hand und betrachtete
sie staunend. Dann kam ihm die Idee, die Murmeln der Größe
nach zu sortieren. Er legte sie in eine Reihe. Zuerst die ganz großen
Murmeln. Die etwas kleineren bekamen eine Extrareihe und die ganz kleinen
auch. Plötzlich entdeckte Florian zwischen den verbliebenen Kugeln
ein merkwürdig aussehendes kleines Metallstück, das sich, als
er danach griff, als ein Schlüssel entpuppte.
Was machst du denn zwischen den Kugeln? Du gehörst doch gar
nicht hier her, murmelte Florian, als ob der Schlüssel ihn
hören konnte. Aber dann erwachte die Neugier und Florian stand auf.
Welches Schloss mochte dieser Schlüssel wohl öffnen. Sofort
versuchte er es an allen Möbelstücken, die auf dem Dachboden
herumstanden, doch der Schlüssel passte nirgends. Während Florian
noch nachdenklich mitten auf dem Dachboden stand, rief plötzlich
seine Großmutter nach ihm.
Flori, wo steckst du? Das Essen ist fertig. Geh deine Hände
waschen und dann komm in die Küche.
Erschrocken zuckte Florian zusammen. Beinahe hätte er den Schlüssel
fallen gelassen.
Ich komme gleich, rief er nach unten und kletterte rasch die
hölzerne Stiege hinab. Seine Großmutter sah es nicht gern,
wenn ihr Enkel auf dem Dachboden spielte. Also musste er sich beeilen.
Jetzt knurrte auch sein Magen und Florian verspürte Hunger. Es duftete
verlockend aus der Küche. Als er den Kopf zur Tür hineinsteckte,
entdeckte er, dass Oma Spaghetti gekocht hatte und Tomatensoße dazu,
Florians Lieblingsessen.
Na komm und setz dich, du hast bestimmt Hunger.
Das ließ Florian sich nicht zweimal sagen.
Nach dem Essen muss ich mal kurz in die Stadt, möchtest du
mitkommen? Großmutter schaute fragend zu Florian, doch der
schüttelte den Kopf. Ich bleibe hier und male ein bisschen.
Na gut, aber mach keinen Unsinn. Ich bin in einer halben Stunde
wieder hier:
Ist schon o.k., lass dir ruhig Zeit, Oma, antwortete Florian.
Das könnte dir so passen, scherzte Großmutter und
räumte den Tisch ab. Florian konnte nicht mehrt still sitzen. Wenn
Oma gegangen ist, kann ich hier unten probieren, zu welchem Schloss der
Schlüssel passt, überlegte er. Hoffentlich dauert es nicht mehr
so lange, bis sie geht.
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