Leseprobe:
Als Roringen noch ein Dorf war (Johanna Gerlinde Lenz)

Die Obsthändlerin am Göttinger Bahnhof

Carolin erinnert sich an Charlotte Müller,
die älteste Obsthändlerin der Welt

Ich war zwei oder drei Jahre alt. Meine Mutter schob mich in der Kinderkarre den Brauweg entlang. Wir wollten zum Bahnhof, um Vater abzuholen. Er war lange fort gewesen, nun hatte er Semesterferien und kam nach Hause. Mich berührte das wenig, ich hatte sein Gesicht vergessen und konnte Mutters Aufregung nicht verstehen. Ich war quengelig. Mutter versprach mir: „Sei lieb, gleich kommen wir bei Tante Müller vorbei, da gibt es was!“
Ich erinnerte mich: Tante Müller, das ist etwas Schönes! und war artig. „Wann sind wir da?“
„Bald.“
Beim Hirtenbrunnen am Groner Tor überquerten wir die Straße. Sie war noch nicht so breit wie heute und der Brunnen stand mitten auf der Kreuzung. Später wurde er in die Wallanlage versetzt. „Da hinten kannst du Tante Müller schon sehen.“ Die Straße führte schräg nach links direkt auf den Bahnhof zu. Dort zwischen den Bäumen ein Sonnenschirm! Nun waren wir da.
Vor mir türmten sich Kisten mit rotglänzenden Äpfeln, duftenden Birnen und goldgelben Bananen auf. Dahinter thronte die alte Obsthändlerin. Ihr weiter Rock bauschte sich. Sie trug ein schwarzes Kopftuch mit einer Schleife oben dran und hatte tausend und abertausend Fältchen im Gesicht. Ihre Augen blickten lieb und sie sprach freundlich zu mir. Eine Oma. Aber nicht wie meine Oma, die hatte kein Kopftuch und nicht so viele Runzeln. Außerdem gab es bei meiner Oma keine Bananen.
Mutter kannte die alte Frau schon lange und sprach mit ihr. Frau Müller reichte ihr eine Banane. Mutter hockte sich vor meine Karre, zog die Bananenschale in Streifen ab und gab mir die süße Frucht in die Hand. Ich liebte Bananen und biss genüsslich hinein. So gefiel mir die Welt. Tante Müller lächelte auf mich herab. Mutter bezahlte und wir verabschiedeten uns schnell, denn gerade lief der Zug ein.

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