Leseprobe:
Die Kinder der Pusteblume gehen auf die Reise (Maria Göthling)

Die unglaubliche Geschichte

Endlich hatten die Sommerferien begonnen. Die zehnjährige Monika war zu Oma Lisa aufs Land gefahren. Sie hatte sich schon so lange darauf gefreut! Moni, so wurde Monika von allen genannt, war gern bei Oma, denn die hatte fast immer Zeit für sie. Außerdem war es bei ihr nie langweilig. Mit ihr konnte man die tollsten Dinge erleben. Doch was Moni heute von Oma zu hören bekam, ließ ihre Augen und Ohren immer größer werden:

„Angefangen hat alles damit, dass ich in der letzten Nacht nicht richtig schlafen konnte“, begann Monis Oma. „Deshalb öffnete ich so gegen halb fünf mein Fenster. Das tue ich eigentlich öfter, wenn ich nachts wach werde. Du weißt ja: Der Ausblick von meinem Dachstübchen ist einfach zu schön!. Ich ließ meinen Blick über den ganzen Ort, die Felder und Wiesen ringsherum, bis hin zum Wald schweifen. Die frische Morgenluft tat mit gut und ich genoss die mystische Stimmung des erwachenden Sommertags. Im Dorf war alles still – die Menschen schliefen noch“, fuhr Oma Lisa fort. „Aus den Wiesen stieg der Morgennebel. Alles hüllte er in sein dunstiges Kleid. Doch das dauerte leider nicht lange. Schon bald hoben sich die Schleier und die Wirklichkeit kehrte zurück. ‚Schade’, sagte ich zu mir selber und blickte zum Himmel. Dunkle Wolken, die Reste der Nacht, zogen vorüber.“

„Oma, du bist ja richtig romantisch!“, lachte Moni.
„Ja, lach du nur wie so viele andere auch! Ihr wisst ja gar nicht, was ihr verpasst, wenn ihr immer nur cool sein wollt!“, schimpfte Oma Lisa im Spaß. „Soll ich nun weiter erzählen oder nicht?“
„Ja, ja, bitte erzähle weiter. Ich verspreche auch, nicht mehr zu lachen, ehrlich!“
„Gerade wollte ich mein Fenster wieder schließen“, fuhr Lisa fort, „da sah ich im Osten, zwischen zwei bewaldeten Berghängen, einen orangen Schimmer. Erwartungsvoll blieb ich am Fenster stehen. Der Farbton wurde ständig intensiver. Nur kurze Zeit später sahen die Wolken, die zwischen den Bergen hervor lugten, wie glühende Lava aus. Andächtig betrachtete ich dieses Naturschauspiel und wartete auf die Hauptattraktion – die Sonne. Doch die ließ sich Zeit. Weil mir das alles etwas zu langsam ging, schaute ich währenddessen in unseren Garten.
Plötzlich hörte ich Stimmen!
‚Los, los, beeilt euch! Gleich kommt die Sonne. Ihr wisst genau, dass wir dann fort sein müssen!’
,Nanu, wer ist denn da so früh wach?’, dachte ich und verrenkte mir fast den Hals. Was ich zu sehen bekam, verschlug mir die Sprache. Unsere Gartenzwerge waren lebendig geworden! Der größte von ihnen hielt eine Tür auf. Sie war ein Teil des alten Baumstumpfs, der einmal ein Apfelbaum war. Mit strengen Worten trieb dieser Zwerg seine Kameraden zur Eile an. Du weißt schon, welchen Baumstumpf ich meine, oder?“, fragte Lisa ihre Enkelin, die sie mit großen Augen anstarrte. „Es ist der große, der mitten im Garten steht und jetzt als Blumensäule dient“, erklärte sie.
„Ja, ja, ich weiß! Erzähle weiter!“, forderte das Mädchen aufgeregt.
Also fuhr Oma Lisa fort:
„Jetzt blickte der Zwerg nach oben.
‚Hallo, du Schlafmütze! Hast du es mal geschafft etwas zeitiger aus den Federn zu kommen?’, rief er hinauf.
‚Woher weißt du …’, begann ich, aber der Zwerg ließ mich nicht ausreden.
‚Jetzt haben wir keine Zeit, denn wenn die Sonne aufgeht, müssen wir weg sein. Allerdings – wenn du morgen noch ein wenig früher aufstehst als heute, kannst du uns im Garten besuchen.
Dann können wir reden.’
Mittlerweile waren, bis auf meinen Gesprächspartner, alle im ehemaligen Apfelbaum verschwunden. Jetzt trat auch er ein und zog die Tür hinter sich zu. Sogleich verschmolz diese mit der Rinde des Baumstumpfes. Niemand hätte hier einen Eingang vermutet. Verdattert sah ich in unseren Garten. Er sah aus wie immer. Die Zwerge standen wieder als leblose Figuren auf der kleinen Steinmauer.“
„Ach Oma, das hast du bestimmt alles nur ge-träumt!“, meldete sich Moni zu Wort.
„Zu dieser Zeit hätte ich das beinahe auch geglaubt“, stimmte Lisa ihrer Enkelin zu, „aber irgendwie hatte ich ein seltsames Gefühl, wenn ich an die Zwerge dachte.“
„Und was war dann?“
„Eigentlich nichts, mein Kind. Das heißt: Ich erinnerte mich wieder daran, dass ich ja in meinem Schlafanzug am Fenster stand, weil ich den Sonnenaufgang beobachten wollte. Denn da tat sich mittlerweile auch etwas. Im Osten, etwas seitlich von der Stelle, wo ich eben noch die ‚Lava’ gesehen hatte, schimmerte jetzt ein kleines Licht zwischen den Bäumen hindurch. Dann ging ein zweites an – geheimnisvoll, wie im Zauberwald.
,Ja, auch das ist Magie – Magie, die man täglich erleben kann – wenn man will’, dachte ich. „Bereits kurze Zeit später wurde es hinter den Bäumen so hell, dass ich meinte, der Wald stünde in Flammen. Ich konnte kaum glauben, dass das alles zum Morgenritual der Sonne gehören sollte! Doch dann sah ich sie – die Sonnenkönigin! Strahlend schön stieg sie ganz langsam hinter den Bäumen zum Himmel empor. Ich war überwältigt!“
„Guten Morgen Klärchen!’, begrüßte ich die Sonne und mit ihr den jungen Tag. Noch eine ganze Weile stand ich danach am Fenster. Doch dann machte ich es energisch zu, ging in unsere Küche und deckte den Frühstückstisch.“
„Wow! Erst die Zwerge, dann der Sonnenaufgang – das klingt ja wie im Märchen!“, rief Moni.
„Wie ein Märchen, ja so habe ich das alles auch empfunden“, antwortete Oma Lisa.
Moni wollte ihrer Oma die ganze Geschichte nur zu gern glauben. Aber das hörte sich alles schon ganz schön verrückt an. Dann hatte sie eine Idee.
„Sag mal Oma, willst du morgen wirklich noch früher aufstehen, um zu den Zwergen zu gehen?“
„Ja, mein Schatz, ich werde auf jeden Fall so früh aufstehen!“
„Oma, würdest du mich mitnehmen zu den Zwergen?“
„Würde ich schon. Aber ich glaube, es ist doch besser, wenn ich erst um Erlaubnis bitte. Das verstehst du doch, oder?“

Der nächste Morgen …
Am nächsten Morgen öffnete Moni verschlafen die Augen. Sie blickte zum Wecker und mit einem Mal fiel ihr die Geschichte mit den Zwergen wieder ein. Mit nur einem Satz sprang das Mädchen aus dem Bett und rannte zu ihrer Oma.
„Und Oma – hast du sie gesehen?“, fragte sie gespannt und zog der älteren Frau am Rockzipfel.
Oma Lisa hatte schon die ganze Zeit auf Moni gewartet, um ihr von dem abenteuerlichen Morgen erzählen zu können.
„Bereits um drei Uhr in der Frühe“, berichtete sie mit aufgeregter Stimme, „betrat ich heute unseren Garten. Und stell dir vor: Um mich herum herrschte reger Betrieb! Alle Zwerge, die ich irgendwann einmal gekauft hatte, waren hier bei der Arbeit. Der, der die Schale mit den Samenkörnern hält, stand an meiner frisch eingesäten Rasenfläche. Jetzt drehte er sich zu mir um.
‚Du bist so groß, aber nicht einmal Rasen kannst du vernünftig säen! Sieh her, so macht man das!’, schimpfte er mit mir.
Schuldbewusst senkte ich den Blick.
‚Dabei habe ich mir solche Mühe gegeben’, versuchte ich mich zu rechtfertigen. Ein anderer Zwerg saß mit seinem kleinen Beil auf einem Stück Holz. Freundlich lächelte er mir zu. Einer hielt seine Laterne hoch, um den anderen zu leuchten. Er war ein kleiner Schelm. Denn kam man in seine Nähe, so ließ er sein Laternchen flackern und lachte dazu aus vollem Hals.
Überhaupt, der ganze Garten war in ein eigenartiges Licht getaucht. Das bewirkten nicht die Solarlampen, die ich im Garten aufgestellt hatte, sondern viele kleine grüne Pünktchen.
‚Was ist das?’, fragte ich den Zwerg, der mit einer Schubkarre voller Gartenabfälle auf dem Weg zum Komposthaufen war.
‚Glühwürmchen!’, lachte er. ‚Siehst du das nicht?’
‚Aber sie sind viel heller als sonst!’
‚Müssen sie ja auch, wie sollten wir sonst unsere Arbeit tun?’, antwortete er mir.“
„Aber Oma“, fiel Moni ein. „Seit wann kennst du denn keine Glühwürmchen mehr? Du hast mir doch erst neulich welche gezeigt!“

„Ja, das habe ich, ich weiß. Aber die Glühwürmchen der Zwerge sahen ganz anders aus. Nicht so, wie die, die wir kennen. Doch hör zu, wie es weiter geht:
Als ich mich umdrehte, sah ich nämlich den Zwerg, der mich gestern angesprochen hatte, auf mich zukommen.
‚Na, da bist du ja!’, rief er. ‚Komm, setz dich zu mir. Ich bin übrigens Albert!’ Zuvorkommend bot er mir einen Platz auf meiner Gartenbank an. Auf einem kleinen Tischchen servierte er mir, in einem Blütenkelch, etwas zu trinken. Misstrauisch beäugte ich das Gebräu. Er sah mein Zögern.
‚Nur Mut! So etwas Gutes bekommst du so schnell nicht wieder!’
‚Was ist das?’, wollte ich auch diesmal wissen.
‚Morgentau, gesüßt mit Blütennektar!’
Vorsichtig probierte ich. Es war einfach köstlich! Ich wollte mich gerade bedanken, als ich sah, wie sich der Zwerg mit einem Mal abwandte und dicke Tränen über sein Gesicht rollten. Gleich-zeitig erscholl ein böses Lachen. Dann hörte ich eine Stimme:
‚Glaubst du wirklich, dass deine Tränen jemanden rühren könnten? Du bist ja noch einfältiger, als ich dachte! Hi, hi, hi!’“
„Hui, das klingt ja gruselig“, unterbrach Moni erneut ihre Oma. Die legte den Arm um ihre Enkelin und strich ihr beruhigend übers Haar.
„Ja, so habe ich das auch empfunden. Mich überlief es eiskalt, das kannst du mir glauben!“, antwortete Lisa. Doch dann fuhr sie fort:
„‚Wer war das?’, wandte ich mich ganz erschrocken an Albert.
,Unsere Peinigerin, Barb.’
‚Warum ist so gemein?’
‚Das ist eine lange Geschichte’, antwortete der Zwerg.
‚Willst du sie mir erzählen?’
‚Nun ja, ich spreche nicht gern darüber, aber ich glaube, du hast ein Recht darauf, alles zu erfahren. Doch heute schaffe ich das nicht mehr, du weißt ja, die Sonne … Komm doch übermorgen wieder. Dann ist Sonntag. Am Sonntag müssen wir nicht arbeiten. Da habe ich genügend Zeit, um dir alles zu erklären.’
‚Ich werde kommen. Aber meine Enkelin Monika würde euch auch gern kennenlernen. Darf ich sie mitbringen?’, fragte ich leise.
‚Ein Kind? Oh ja, das ist gut. Bring sie mit. Du würdest uns allen eine große Freude machen. Für heute muss ich mich jedoch von dir verabschieden. Also, leb wohl bis Sonntag!’, rief Albert schon wieder etwas fröhlicher und wandte sich erneut seinen Kameraden zu.

Nachdenklich verließ ich meinen Garten. Der Sonnenaufgang, so schön er auch sein mochte, interessierte mich heute nicht. Zu sehr beschäf-tigte mich das, was der Zwerg gesagt hatte. Was mochte es für eine Geschichte sein? Die Tränen von Albert und diese böse Stimme ließen mich nicht mehr los …“
„Oma, ich darf wirklich mit? Das wird ja spannend!“
„Ja, Moni du darfst mit. Schließlich hat es Albert erlaubt. Doch, was du als spannend empfindest, ist für die Zwerge sehr, sehr traurig. Vergiss das nicht!“ ...

 

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