Leseprobe:
Pflaumenknödel und Hähnekrähen (Gertrud Keitel)

99 Pflaumenknödel

In der Familie meiner Mutter gab es zehn Kinder. Es waren fünf Mädchen und fünf Jungen. Meine Mutter war die jüngste Tochter und nach ihr kam noch ein Junge zur Welt. Die Familie besaß einen Bergbauernhof, aber der Boden war steinig und brachte wenig Ertrag. Angebaut wurden hauptsächlich Kartoffeln, ein wenig Getreide, Mohn und Lein. Das Gelände war bergig und oft für die Ochsen zu steil. So war viel mühsame Handarbeit gefragt. Vor allem wurde der Lein mit der Hand ausgerupft, zu kleinen Garben gebündelt und dann zum Trocknen aufgestellt. Es war eine mühsame Arbeit. Für meine Großmutter war es besonders schwer, die vielen Schwangerschaften, den Haushalt und die anderen Kinder. Sicher gab es am Hof immer zwei Mägde und Knechte, aber auch die mussten verköstigt werden. Es war keine leichte Aufgabe. Die größeren Kinder wurden beizeiten an die Arbeiten am Hof eingebunden oder passten auf die kleineren Geschwister auf.

In der Zeit nach dem ersten Krieg gab es viele Bettler und Landstreicher. Es waren Leute, die keine Heimat und Bleibe hatten. So kam auch ein älterer Mann auf den Hof und bat um Arbeit. Es war Herbst und die Erntezeit war vorbei. Großmutter hatte Mitleid mit dem alten Mann. Sie konnte ihn nicht wegschicken und fragte:
„Kannst du denn Holz hacken oder Reparaturen am Haus und in den Ställen machen?“
„Oh ja, das kann ich alles“, sagte er.
„Ich brauche auch nur einen Platz in der Scheune zum Schlafen und ich habe großen Hunger.“

Das glaubt Großmutter ihm, denn er sah mager aus. So blieb er am Hof. Er erledigte alle anfallenden Arbeiten, schlief in der Scheune und im Winter im Stall und bald schlotterte seine Kleidung, die Großmutter inzwischen auch hatte ausbessern lassen, nicht mehr so um seinen Körper. Die Kinder hatten ihn, und er sie, bald ins Herz geschlossen. Sie saßen zu seinen Füßen und sahen und hörten ihm zu. Er schnitze Spielzeug, erzählte Geschichten und erfand neue Spiele.

So verging der Winter und als es Frühling wurde, kam er zur Großmutter, um sich zu verabschieden.
„Im Sommer, nein, da kann ich nicht bleiben. Es gibt so vieles in der Welt, was ich noch nicht gesehen habe.“
Also zog er mit seinem Bündel los.

So verging der Sommer. Die Tage wurden kürzer und der Wind kräftiger und härter und eines Tages stand Paule wieder vor der Tür. Er sei etwas müde und hungrig und würde gern den Winter hier in Scheune und Stall verbringen.
„Paule, Paule, was soll ich mit dir machen. Schlaf dich erst einmal ordentlich aus und dann werden wir weitersehen“, sagte die Großmutter.
Die Kinder freuten sich sehr und Paule bezog seinen alten Schlafplatz in der Scheune.

In diesem Herbst gab es besonders viel Pflaumen und am nächsten Tag stand auf dem Speisezettel der Familie: „Pflaumenknödel“. Es hatte sich herumgesprochen:
„Paule ist wieder da.“
„Wir müssen viel Kartoffeln kochen“, meinte die junge Frau, die für das Kochen zuständig war.
„Oh, ja“, sagte Großmutter, „der arme Kerl ist ganz ausgehungert. Er hat gestern gleich in das trockene Stück Brot hineingebissen, ohne auf die Butter zu warten.“
Also wurden zwei Töpfe Kartoffeln gekocht und zum Auskühlen zur Seite gestellt.

Am nächsten Morgen begannen zwei Frauen mit der Arbeit. Sie rieben die gekochten Kartoffeln, gaben Mehl, Eier und Salz dazu und bereiteten daraus einen Teig. Dieser wurde in Stücke geteilt, zu kleinen Kuchen gedrückt und je eine Pflaume darin eingehüllt. Es war eine mühsame Arbeit, aber von den Frauen gern gemacht. Die runden Knödel kamen in kochendes Wasser und mussten langsam garen. Sie wurden dann mit gebräunter Butter übergossen, mit Zucker bestreut und so serviert. Man rech­nete für einen erwachsenen Mann 20 – 30 Stück zu einer Mahlzeit.

Und nun zu Paule, der in der Nähe des Hofes werkelte. Zwei der größeren Kinder waren schon aus der Schule nach Hause gekommen. Die könnten ihm doch die Knödel in den Wald bringen, da grade Mittagszeit war. Wie viel würde er wohl verspeisen? Man beschloss, den restlichen Teig zu verarbeiten, Pflaumen gab es genug. Die Frauen rollten und lachten und schafften es, über 100 Knödel zu formen. Also musste eine große Schüssel her, damit alle Platz hatten. Die Knödel wurden sorgfältig gezählt – nein – hundert wollten sie nicht geben, aber neunundneunzig wären passend.

Am Abend, als Paule nach Hause kam, brachte er die leere Schüssel zur Großmutter in die Küche:
„Na, Paule, wie haben die Knödel geschmeckt? Bist du satt geworden?“, fragte sie.
„Die Knödel waren gut. So gute habe ich noch nie gegessen. Ja, ich bin satt geworden“, sagte er und rieb sich seinen Bauch.
„Wie viele hatten dir denn die Mädchen eingepackt?“, fragte Großmutter.
„Ich habe genau gezählt, es waren neunundneunzig. Es war schade, wären es hundert gewesen, ich hätte das eine auch noch geschafft.“

 

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