Leseprobe:
Meeresleuchten (Johanna Gerlinde Lenz)

Auf einem Fischkutter

Die Studentinnen Joh und Liss und der Student Wolf hatten ihr Gepäck am Bahnhof aufgegeben, die Fahrräder im Zug verstaut und fuhren nun gen Norden. In einigen Tagen sollten sie ihr Landschulpraktikum in einem Dorf in der Nähe von Emden antreten. Doch zuvor wollten sie sich noch ein paar Urlaubstage gönnen. In Bremen unterbrachen sie ihre Reise, um die schöne alte Hansestadt kennen zu lernen. Auf dem großen Rathausplatz bewunderten sie das prächtige Rathaus aus roten Backsteinen und die Fenster mit den farbigen Butzenscheiben, die in der Sonne schillerten. Staunend blickte Liss zu der hohen Rolandstatue auf: Ist der riesig! Für Wolf war das nichts Neues. Es heißt doch auch: Rrroland, derrr Rrriese, am Rrrathaus zu Brrremen! Die Mädchen lachten, weil er das R so gut rollen konnte. Bleibt mal so davor stehen, ich will ein Foto von euch und dem Riesen machen! Kichernd posierten die beiden und Wolf knipste. Dann bummelten sie durch die berühmte Böttchergasse und suchten das Haus der Malerin Paula Modersohn Becker, das Joh unbedingt sehen wollte, ihr Kunstprofessor hatte sie darauf hingewiesen. Die Stadtkirche mit der Krypta besichtigten sie als Nächstes. Aus alten Zeiten lagen dort Mumien aufgebahrt, die Hände gefaltet, mit papierener Haut. Fingernägel, Haare! Liss schüttelte sich: Gruselig! Die bleihaltige Luft konservierte die Körper, die Toten verwesten nicht. Von Zeit zu Zeit hatte man tote Vögel dort aufgehängt, um zu prüfen, ob die Wirkung noch anhielt. Wie froh waren die drei, als sie wieder hinaus in den Sonnenschein traten!

Huuh, schauerlich dieser Bleikeller! Christian verzieht das Gesicht. Ob die da immer noch liegen? – Erzähl bitte weiter!, drängelt Sabine.

Nach einer Übernachtung in der Jugendherberge schulterten sie ihre Rucksäcke und radelten weiter in Richtung Norden immer an der Küste entlang. Am späten Nachmittag fragten sie in einer Gastwirtschaft in Dornumersiel nach einem einfachen Quartier. Das einzige Wirtshaus hatte nur ein Heubett in einem Schuppen zu bieten. Die freundliche Wirtin servierte den armen Studenten eine kräftige Erbsensuppe mit einem Würstchen. Die drei waren überrascht und nahmen es dankbar an.

Ein Würstchen für alle?, unterbricht Christian ungläubig.
Nein, es bekam schon jeder eins.

Später kletterten sie in die Luke, die sich in der Giebelwand des Heuschobers etwa zwei Meter über dem Boden befand. Noch war es hell, sie setzten sich nebeneinander in die Luke und ließen die Beine baumeln. Vor ihnen lag das Meer. Liss schwärmte: Herrlich! Ich habe mir schon immer gewünscht, das Meer zu sehen. Daheim in Schlesien waren wir so weit weg davon. In der Ferne sahen sie einige Fischkutter. Gerade stieg die Flut und sie beobachteten, wie sich die Priele füllten und das Wasser näher kam. Wolf träumte vor sich hin: Auf so einem Kutter möchte ich gern mal mitfahren. Wir Landratten haben ja keine Ahnung, wie das so ist, wenn der Boden unter uns schwankt. – Vielleicht wirst du aber auch seekrank, frotzelte Joh. Ich doch nicht!

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