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Leseprobe:
Die Postkarte Frieda saß auf der Eckbank in ihrer Küche und sah aus dem
Fenster. Draußen war es Winter geworden. Der erste Schnee bedeckte
die Straßen. Sie hörte, wie Elke den Staubsauger im Wohnzimmer
anstellte. Ihre Tochter kam jeden Samstag für ein paar Stunden, um
ihr im Haushalt zu helfen. In den letzten Monaten war es für Frieda
immer beschwerlicher geworden. Ihre Knochen schmerzten bei jeder Bewegung
und die Kraft schwand mit jedem Jahr ein bisschen mehr. Sie sah sich in
ihrer Küche um. Elke hatte das Geschirr von gestern schon abgewaschen
und wieder in den Schrank geräumt. Alles sah blitzblank aus. Und
auch, wenn ihre Tochter nicht mehr viel mit ihr sprach, Frieda war dankbar,
dass sie ihr half. Elke sorgte dafür, dass sie frische Wäsche
hatte, der Kühlschrank gefüllt und die Wohnung sauber war. Ohne
ihre Hilfe hätte sie nicht mehr hier wohnen bleiben können.
Frieda nahm einen Schluck Kaffee und stellte die Tasse neben den Geburtstagskuchen,
der von gestern übrig geblieben war. Die Geburtstagskerzen lagen
fein säuberlich auf einer Serviette daneben. Ihren Achtzigsten hatte
sie gefeiert. Elke hatte sie besucht und der Pfarrer hatte ihr einen Blumenstrauß
gebracht. Doch Lothar war auch in diesem Jahr nicht gekommen. Seit zwei
Jahren hatte sie ihren Sohn nicht mehr gesehen. Frieda seufzte und stand
auf. Sie schlurfte hinüber zum Küchenschrank und holte das kleine
Kästchen mit den Postkarten heraus. Dann setzte sie sich wie jeden
Samstagnachmittag an den Küchentisch, suchte eine Karte aus und schrieb.
Mein geliebter Sohn, ich denke jeden Tag an dich. Und gestern an meinem
Geburtstag ganz besonders. Wie gern hätte ich dich neben mir gewusst.
Ich verstehe, dass du nicht da sein kannst. Doch du fehlst mir unendlich.
Es schmerzt mich, dass wir so weit voneinander getrennt sind. Ich hoffe,
wir sehen uns bald wieder. In Liebe, Mama Frieda legte den Stift zur Seite
und nahm eine Briefmarke aus dem Kästchen. Es war die letzte. Im
Wohnzimmer ging der Staubsauger aus und ihre Tochter öffnete kurz
darauf die Küchentür. Elke sah müde aus. Ich bin
fertig. Ich gehe jetzt. Brauchst du noch irgendwas? Briefmarken,
antwortete Frieda und hielt ihrer Tochter die Postkarte hin. Und
kannst du die bitte einwerfen? Elke stemmte die Hände in die
Hüften. Meinst du nicht, es reicht langsam? Was
meinst du? Jeden Samstag schreibst du ihm. Jeden verdammten
Samstag! Er kommt nicht zurück! Das weißt du! Frieda
schwieg. Mama, er kommt nicht zurück! Nimmst du
die Postkarte bitte mit und wirfst sie ein, ja? Frieda hielt ihrer
Tochter die Postkarte noch einmal hin. Ich bin müde, Mama.
Ich kann nicht mehr. Elkes Augen füllten sich mit Tränen.
Lothar ist tot, flüsterte sie. Er ist tot. Wir
waren auf seiner Beerdigung. Du warst da. Du hast gesehen, wie er krank
wurde und starb. Friedas Hände umklammerten die Postkarte.
Warum schreibst du ihm noch immer? Frieda schwieg. Sie ließ
die Karte auf den Küchentisch sinken und ging hinüber ins Wohnzimmer.
Nach einer Weile hörte sie, wie die Wohnungstür ins Schloss
fiel. Sie trat zum Fenster und sah ihrer Tochter nach, wie sie den verschneiten
Weg zur Straße hinunter schritt. An den Mülltonnen blieb Elke
stehen, öffnete den Deckel der Papiertonne und ließ die Postkarte
hineinfallen. Dann schloss sie den Deckel, ging zu ihrem Auto und fuhr
davon. Eine innere Leere erfüllte Frieda. Unfähig sich zu bewegen
starrte sie auf die Tonne und begriff. Ihr Sohn war tot. Er würde
nicht zurückkommen. Keine ihrer Karten hatte Lothar erreicht. Er
war tot. Frieda wusste nicht, wie lange sie schon am Fenster stand und
auf die Tonne starrte, als ein junger Mann den Weg zum Haus hinunterkam.
Er hieß Yussuf und er wohnte in der Wohnung neben ihr. Sie hatten
noch nie miteinander gesprochen. Als der Hausmeister im Sommer den Wasserhahn
im Bad bei ihr reparierte, hatte er Ihr erzählt, dass Yussuf aus
seiner Heimat flüchten musste. Er war allein über das Meer nach
Europa gekommen. Mit nur neunzehn Jahren war er auf sich allein gestellt.
Warum war er ihr bisher nie aufgefallen? Immerhin wohnte der junge Mann
seit über einem Jahr neben ihr. Frieda sah, wie Yussuf den Deckel
der Papiertonne anhob. Doch er warf nichts hinein. Er nahm etwas heraus.
Ihre Karte. Er steckte sie sorgsam in seine Jackentasche und kam in Richtung
des Hauses. Frieda trat zur Wohnungstür, öffnete sie und sah
auf den Flur. Kurz darauf stieg Yussuf die Treppe hinauf. Als er sie sah,
blieb er kurz stehen und schaute ihr in die Augen. Dann zog er seine Kapuze
tiefer ins Gesicht, ließ seine Schultern hängen und blickte
zu Boden. Wortlos ging er an Frieda vorbei. Sie sah, wie seine Hand in
seine Jackentasche glitt. Die Karte. Frieda wollte etwas sagen, aber sie
konnte nicht. Yussuf schloss seine Wohnungstür auf und verschwand.
Was wollte der Junge mit ihrer Karte? Frieda trat zurück in ihre
Wohnung und ließ sich in der Küche auf die Eckbank fallen.
Ihr Blick fiel auf die Reste des Geburtstagskuchens. Der Junge hatte dünn
ausgesehen. Sie konnte den Kuchen sowieso nicht alleine schaffen und Elke
würde erst nächsten Samstag wiederkommen. Frieda stand auf,
nahm einen Teller aus dem Schrank und schnitt ein paar Stücke des
Geburtstagskuchens ab. Mit dem Teller in der Hand nahm sie den Schlüssel
vom Schlüsselbrett im Flur und schloss die Wohnungstür hinter
sich ab. Aus Yussufs Wohnung drang laute Musik. Frieda klingelte. Sie
hörte, wie er die Musik ausstellte und zur Tür kam. Entschuldigung,
dass die Musik wieder zu laut war. Ich wollte nur
Yussuf
hielt mitten im Satz inne, als er Frieda sah. Offenbar hatte er jemand
anderen erwartet. Er sah hinab auf das Stück Kuchen, dass sie ihm
hinhielt. Ich hatte Geburtstag und noch etwas übrig,
sagte sie. Ich dachte, du möchtest vielleicht etwas davon haben.
Yussuf sah sie verlegen an. Danke, sagte er leise. Frieda
sah an ihm vorbei in seine kleine Wohnung. Auf der Kommode im Flur lag
ihre Karte. Yussuf folgte ihrem Blick. Ich
, stammelte
er. Dann schwieg er. Warum hast du sie genommen? Es
hilft. Mit einer Handbewegung gab er ihr zu verstehen, ihm in die
Wohnung zu folgen. Er führte sie in sein Wohnzimmer. Nur ein Sofa,
ein Tisch und ein Fernseher standen in dem kleinen Raum. Auf dem Tisch
stapelten sich Bücher. An der Wand hing das Foto einer Frau. Und
um das Foto herum fein säuberlich Friedas Postkarten an ihren Sohn.
Jede Einzelne, die sie Elke in den letzten Monaten mitgegeben hatte. Das
ist meine Mutter. Yussuf zeigte auf das Bild in der Mitte. Wo
ist sie jetzt?, fragte Frieda. Sie lebt nicht mehr.
Frieda ließ ihren Blick über das Bild der Frau und all die
sorgsam aufgehängten Postkarten wandern. Jeden Samstag stelle
ich mir vor, sie hätte mir geschrieben, sagte Yussuf leise.
Es tut mir leid. Frieda dachte daran, dass sie wütend
auf Elke sein sollte, weil sie jede ihrer Karten entsorgt hatte. Aber
sie konnte nicht. Sie strich Yussuf über den Arm. Komm, wir
essen ein Stück von dem Kuchen. Hast du noch einen Teller in der
Küche? Von diesem Samstagnachmittag an schrieb Frieda keine
Karten mehr an ihren Sohn. Und wenn Elke sie nun nach dem Wohnungsputz
fragte, ob sie noch etwas brauchte, antwortete sie: Kuchen.
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