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Leseprobe:
Krokolines Geschichten-Ei (Michaela Schreier)
Emmas mutiges Geheimnis
Emma war schon immer die Kleinste. Bereits im Kinder-garten überragten
sie die anderen Kinder, woran sich auch später in der Schule nichts
änderte. Hinzu kam, dass Emma auch noch sehr zierlich und dünn
war. Ihre langen, blonden Haare fielen ihr glatt über die schmalen
Schultern, was sie noch unscheinbarer machte und sie regelrecht zerbrechlich
wirken ließ. Ihre Eltern und ihr großer Bruder nannten sie
oft unser kleines Mädchen und tätschelten ihr von
oben herab den Kopf. Das konnte Emma eigentlich gar nicht gut leiden,
aber das ließ sie sich nicht anmerken. Was sollte sie denn auch
dagegen tun?
Im Grunde haben sie doch recht, dachte Emma missmutig, während
sie ihre schmale Gestalt im Spiegel betrachtete und sich selbst die Zunge
rausstreckte.
In die Schule ging Emma nicht sonderlich gern. Sie war eine gute Schülerin
und brachte stets gute Noten nach Hause. Trotzdem fühlte sie sich
in der Menge der lauten und wilden Kinder unwohl. Besonders in den Pausen.
Da bemerkte sie häufig, wie die anderen hinter ihrem Rücken
tuschelten oder ihr heimlich an den langen Haaren zogen. Wörter,
wie Streber oder magerer Bücherwurm, vernahm
sie oft. Dann zog sie den Kopf noch weiter zwischen ihre Schultern und
verzog sich in eine ruhige Ecke.
Emma hatte zwei beste Freundinnen: Charlotte und Franziska. Das waren
zwar nicht viele Freunde, aber Emma fand, dass diese Freundschaften kostbarer
waren, als alles andere.
Und dann war da noch ihre Oma Resi. Sie wohnte nur ein paar Straßen
von ihrem Elternhaus entfernt. Bei ihr war das kleine Mädchen stets
willkommen. Sie besuchte die alte, herzliche Frau so oft es ging und genoss
die gemeinsame Zeit mit ihr. Oma Resi konnte die tollsten Geschichten
erzählen und wusste immer eine Antwort auf Emmas Fragen. Das Mädchen
vermutete, dass das an den vielen Büchern lag, die Oma Resi besaß.
Sie waren überall im Haus verstreut: Auf dem Kaminsims und der kleinen
Flurkommode, auf dem Beistelltischchen im Wohnzimmer und natürlich
in den zahlreichen Regalen. Emma stöberte oft in dem gemütlichen
Durcheinander herum und blätterte in den unterschiedlichen Büchern.
Wenn sie dann eine spannende Geschichte entdeckte, machte sie es sich
auf dem weichen Teppichboden gemütlich und las. Wie schön es
doch für sie war, voll und ganz in die fantastischen Erzählungen
einzutauchen und alles andere um sich herum vergessen zu können.
Dieses Kopfkino fand Emma besser, als jede Fernsehsendung. Wenn ihre Oma
sie dann so vorfand, lächelte sie in sich hinein und nannte Emma
ihren kleinen Bücherwurm. Wenn Oma Resi das sagte, fand
Emma das überhaupt nicht schlimm. Denn bei ihr hörte sich das
nett an und nicht so lächerlich, wie bei ihren Schulkameraden.
Eines Tages saßen die zwei wieder gemeinsam an dem alten Küchentisch
und tranken eine Tasse Tee. Emma war schlecht gelaunt. Sie seufzte tief
und nahm vorsichtig einen Schluck aus der dünnen Porzellantasse.
Na Liebes, an so einem schönen Tag so schwere Gedanken?
Oma sah sie aufmunternd an. Da erzählte Emma ihr, dass sie wieder
einmal von den anderen Kindern gehänselt wurde und sich nichts mehr
wünschte, als groß und stark zu sein. Oma Resi hörte ihr
geduldig zu und nickte langsam.
Weißt Du, Emma, in Wahrheit ist es völlig egal, wie man
aussieht. Auch wenn man noch so klein und zierlich ist, ändert das
doch nichts an der wahren Stärke, die in jedem von uns wohnt. Glaub´
mir: Tief in deinem Inneren bist du stärker, als all deine Klassenkameraden
zusammen. Du musst es nur glauben und wollen! Emma sah ihre Oma
zweifelnd an.
Meinst Du wirklich?, fragte sie.
Ganz bestimmt!, antwortete die alte Frau und lächelte
zuversichtlich.
Als Emma am nächsten Tag von der Schule nach Hause kam, lag ein
kleines Päckchen vor ihrer Haustür. Für Emma
stand darauf. Das Mädchen erkannte sofort die geschwungene Handschrift
ihrer Oma. Schnell klemmte sie sich das Paket unter den Arm und verschwand
in ihrem Zimmer. Neugierig riss sie das Papier auf. Dabei fiel ihr ein
kleiner Zettel entgegen.
In jedem steckt etwas Großes, wenn er ein gutes Herz hat.
Liebe Grüße, Omi, stand darauf. Emma runzelte die Stirn
und packte das Geschenk weiter aus. Sie konnte sich schon denken, was
es war. Ein Buch, besser gesagt ein Löwenbuch. Emma schaute es sich
genauer an und war sofort von den wunderschönen Zeichnungen begeistert.
Löwen faszinierten das Mädchen schon, seitdem sie denken konnte.
Sie fand ihr Äußeres so majestätisch und stolz. Außerdem
wusste sie, dass die Tiere im Rudel wie in einer richtigen Familie zusammenleben.
In dem Buch ging es um so eine Löwenfamilie. Die Hauptfigur war ein
kleines Löwenjunges, welches immer wieder in Schwierigkeiten geriet.
Doch seine Klugheit und die Hilfe seiner besten Freunde sorgten stets
dafür, dass es sich aus jeder be-drohlichen Situation retten konnte.
Emma fand es toll, dass sich durch die guten Ideen des Kleinen und der
starken Gemeinschaft seiner Freunde immer wieder alles zum Guten wendete.
Außerdem war es schön mitzuerleben, wie sich der Löwenjunge
mit der Zeit zu einem prachtvollen und weisen Löwenmann entwickelte.
Sie las das ganze Buch an einem Nachmittag durch und begann sofort wieder
von Neuem. Schließlich klappte sie die Seiten zusammen und fragte
sich: Ob tief in mir auch etwas von einem Löwen verborgen ist?
Einige Tage später lag Emma in ihrem Bett. Vor dem Einschlafen durfte
sie meistens noch etwas lesen. Wieder einmal hatte sie sich für das
Löwenbuch entschieden. Beim Durchblättern der Seiten bewunderte
sie erneut die schönen Zeichnungen. Auf einer war ein stattlicher
Löwe abgebildet. Er stand mitten in der Wüste und um ihn herum
lagen Löwinnen mit ihren Löwenkindern. Sie schliefen seelenruhig
in der Gewissheit, dass der starke Löwe über sie wacht. Emma
schaute also auf das Bild, wobei sie immer schläfriger und schläfriger
wurde, bis ihr schließlich die Augen zufielen.
Und plötzlich war Emma der Löwe!
Sie spürte den kräftigen Körper um sich herum, der auf
vier starken Pranken im lockeren Wüstensand stand. Ihren mächtigen
Kopf hatte sie stolz erhoben, während die Sonne langsam vor ihr unterging
und der Wind durch ihre prachtvolle Mähne strich. Dann begann sie
zu laufen. Einfach nur so zum Spaß! Sie flog regelrecht über
den sandigen Boden dahin und genoss die Leichtigkeit, mit der ihr schwerer
Löwenkörper durch die kühler werdende Abendluft glitt.
Ihre Lungen atmeten kräftig ein und aus, als sie mühelos einen
steilen Hügel hinauf rannte. Oben angekommen blickte sie über
die endlose Wüstensteppe. Dann hob sie den Kopf, öffnete das
riesige Maul und brüllte! Ja, sie brüllte wie ein richtiger
Löwe!
Rrroarrr!!!
Das Brüllen war so laut, dass Emma davon aufwachte. Etwas verwirrt
setzte sie sich in ihrem Bett auf und lauschte mit angehaltenem Atem in
die Dunkelheit hinein. Hatten etwa ihre Eltern oder ihr Bruder das Brüllen
gehört? Nein keiner schien etwas bemerkt zu haben und so ließ
sie sich mit einem tiefen Seufzer wieder in ihre Kissen zurückfallen.
Immer noch spürte sie die unbändige Kraft und Anspannung in
ihrem ganzen Körper.
Ja, dachte sie in mir steckt ganz sicher ein Löwe!,
und mit dieser Gewissheit schlief sie wieder ein.
In den folgenden Tagen bemerkten ihre Familie und sogar ihre Freunde,
dass Emma, die zwar immer noch die kleine, zierliche Emma war, irgendwie
größer wirkte. Emma spürte das ebenfalls, doch sie wusste
ja auch, dass tief in ihrem Innern ein Löwe schlummerte. Die anderen
Kinder, die sie auf dem Schulhof sonst immer gern wegen ihres zier-lichen
Körperbaus und ihrer guten Noten geärgert hatten, hielten nun
etwas Abstand und beäugten sie misstrauisch von Weitem.
Emma gefiel das. Klar, vor einem Löwen hätte sie schließlich
auch Respekt. Als sie das ihrer Freundin Charlotte erzählte, ist
die skeptisch.
Oh, Emma! Du spinnst ja! Wie soll denn in dir kleinem Zwerg ein
Löwe stecken?
Doch Emma ließ sich nicht beirren und dachte sich: Irgendwann
werde ich es dir beweisen. Dann wirst du es selbst sehen!
Einen Tag später ging Emma allein von der Schule nach Hause. Charlotte
war bereits vorgegangen, da sie pünktlich zum Mittagessen zu Hause
sein sollte. Franziska wurde immer von ihrer Mutter abgeholt, da sie am
anderen Ende der Stadt wohnte. Emma schlenderte also allein den Weg entlang,
als sie plötzlich in der Ferne Charlottes Stimme hörte. Schnell
lief sie zur nächsten Straßenecke. Da sah sie ihre Freundin,
die von drei Jungen aus der sechsten Klasse umringt wurde. Die Jungs schubsten
Charlotte hin und her und lachten, als sie sich wehren wollte.
Emma rannte ohne zu Überlegen auf die Gruppe zu.
Hey! Lasst sofort meine Freundin in Ruhe! Die Jungen ließen
von Charlotte ab und drehten sich überrascht zu Emma um. Als sie
das kleine Mädchen erblickten, das trotzig die dünnen Ärmchen
in die Hüfte gestemmt hatte, fingen sie laut an zu lachen.
Was willst du Winzling denn? Pass bloß auf, dass dich der
Wind nicht wegfegt!, johlten sie. Da spürte Emma, wie die Wut
in ihr aufstieg und der Löwe erwachte! Ihr ganzer Körper spannte
sich an, von den Zehen bis zu den Haarspitzen. Ihre kleinen Hände
wurden zu großen Pranken mit gefährlichen Krallen und das unscheinbare
Mädchengesicht verwandelte sich in das eines stolzen Löwen.
Sie atmete ganz tief ein und brüllte:
LASST SOFORT MEINE FREUNDIN LOOOOOS!!! Dabei schüttelte
sie wild den Kopf, dass ihre Haare nur so flogen und tatsächlich,
wie eine Löwenmähne vom Kopf abstand. Völlig verunsichert
schauten die Jungen das tobende, zierliche Mädchen an. Als dann auch
noch einige Fenster der umliegenden Wohnhäuser geöffnet wurden
und der Besitzer des nahe gelegenen Kiosks vor die Tür trat, bekamen
sie es endgültig mit der Angst zu tun. Sie ließen von Charlotte
ab und rannten wie die Hasen davon. Emma stand immer noch fest entschlossen
und aufrecht da. An ihrem Hals standen die Adern hervor und ihr Brustkorb
hob und senkte sich vor Aufregung. Charlotte traute ihren Augen kaum,
als sie ihre kleine Freundin so sah. Der Kioskbesitzer trat zu den Mädchen
heran und fragte, ob alles in Ordnung sei. Charlotte erklärte ihm,
was passiert war.
Daraufhin klopfte der Mann Emma auf die Schulter und sagte anerkennend:
Das war sehr mutig von dir! Du hast genau das Richtige getan. Durch
das laute Schreien sind die Leute auf euch aufmerksam geworden. Die frechen
Burschen haben damit wohl kaum gerechnet. Aber jetzt verrate mir mal,
wo du kleines Ding bloß diese Kraft hernimmst? Du hast ja gebrüllt,
wie ein Löwe!
Da schauten sich die zwei Mädchen verdutzt an und fingen lauthals
an zu lachen.
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