Leseprobe:
Der Vogel Krok

Es war zu der Zeit, als die Menschen noch nicht so groß waren wie heute und die Vögel große Tragflächen hatten.

Der Vogel Krok trug das Mädchen unter dem Himmel hindurch und legte es ab auf der Erde. Als es die Augen aufschlug, war es allein. Mit jedem Atemzug des Menschenkindes auf der grünen Erde füllte sich die dunkle Stille ringsum mit Leben. Farbiger wurden die Laute des Lebens.

„Kommt der Vogel Krok durch die Welt geflogen, weißt du, was er trägt?“, sang der Tagtigall im Brombeergesträuch.

Das Mädchen lauschte hingebungsvoll dem Gesang.
„Wie bist du nur hierher gekommen?“fragte es leise.
„War schon immer da“ war die Antwort.

Die Erde bewegte sich vor ihr und ein Maulwurf kam zum Vorschein.
„Mault sich Wühlwurf Fruw
mühsam durch das Erdenreich
murft er Wurm um Wurm.“

Das Mädchen bewunderte die großen Grabschaufeln von Wühlwurf Fruw und streckte zaghaft seine Hand aus.

Da berührte es etwas am Fuß. Es schaute an sich herab und entdeckte eine schwarzgoldene Schnecke auf seinem kleinen Zeh.

„Schleicht die Schnecke Schnim
schnirkelnd aus dem Schattenhain
schleckt sie deinen Zeh.“

„Wie bist du nur hierher ...“

„War schon immer da“ wisperte die Schnirkelschnecke und wechselte langsam hinüber auf einen dicken Halm.

Das Mädchen fröstelte und wollte sich in ein Huflattichblatt wickeln, als plötzlich ein dickes Etwas an seiner Nase vorbei plumpste. Vorsichtig drehte das Mädchen Blatt für Blatt um und suchte, wo es geblieben sein könnte. Und da war es zu hören:

„Singt die Kröte Kling glockenhell
im Märzenlicht funkeln ihre Augen.“

„Wie bist du nur...“
„War schon immer da“.

Das Mädchen wollte die Kröte berühren, aber schon fesselte es etwas Neues:
„Guckt der Grasfrosch Glucks klitzekeck aus kühlem Grün klettert kühn sein Fuß.“

Das Mädchen lachte: „Wie bist du...“

Es pflückte eine Brombeere und wollte sie zum Munde führen – da hielt ein merkwürdiger Geruch es davon ab.
Das Mädchen schaute die Beere genauer an:

„Wetzt die Wanze Wnaz wuselnd
in den weichen Wust
grinst sie grell und stinkt.“

„Oh“ sagte das Mädchen und legte die Beere behutsam ins Brombeergesträuch.

„Wie, wie, wie“ sang der Tagtigall.
„Die, die, die, die!“

Das Mädchen schaute hinauf in die Esche. Da saß der unscheinbare Tagtigall und schaute es mit großen Augen an:

„Bist ein armes Vögelein,
darfst nicht des Königs Tochter sein“, sang er.

„Du meinst doch nicht mich?“ wunderte sich das Mädchen.

„Du, du, die, die“, flötete der Tagtigall und - husch war er im Unterholz verschwunden.

Das Mädchen seufzte und setzte sich auf den Stamm der gestürzten Esche. Da hörte es von fern das vertraute „Krok, krok, krok“, immer näher kam es, bis der Vogel Krok das Mädchen mit mächtigen Schwingen umkreiste und sich auf seiner Schulter niederließ.

Er rieb seinen Schnabel am linken Ohr des Mädchens und tuschelte:

„Nie darf es vergessen sein,
du bist des Königs Töchterlein.“

„Also doch“, sagte das Mädchen, „aber wie heiß ich, wo wohn ich und warum bin ich hier?“

„Krok, krok“, erklärte der Kolkrabe, „Gefahr, Gefahr“, hüpfte aufgeregt den Stamm entlang und hieb mit dem Schnabel heftig in die Rinde. ...

 

 

 

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