Leseprobe:
Ingenieure sind auch Menschen
(Richard Erren)

Gute Fee, dunkle Fee

Schweißgebadet wachte sie auf. Die Angst schlang kalte Klauen um ihr junges Herz. Wieder war die dunkle Gestalt zu ihr gekommen. Näher als zuvor. Sie spürte es. Wusste, bald würde sie sich nicht mehr aus dem Traum retten können.
Vor einigen Jahren, kurz bevor sie im Alter von sechs Jahren eingeschult werden sollte, hatte sie sich eine heftige Infektion zugezogen. Fieber, Gliederschmerzen, Übelkeit, Kopfschmerzen. Wochenlang war sie krank gewesen. Hatte ihre Einschulung verpasst, auf die sie sich so sehr gefreut hatte. Die Ärzte waren ratlos gewesen. Keine Therapie, kein Medikament hatte auch nur ansatzweise Besserung gebracht. Sie hatte schließlich das Gefühl, die Schmerzen, die Übelkeit und die Müdigkeit nicht mehr aushalten zu können. Sie hatte sich nur noch gewünscht zu sterben, um ihrer Qual zu entgehen.
Doch genau in der Nacht, in der sie erstmals mit diesem Wunsch eingeschlafen war, erschien ihr im Traum eine Fee. Eine wunderschöne Frau, ganz in Weiß gekleidet, mit langen blonden Haaren. Sie setzte sich ans Bett des fiebernden Mädchens und strich ihm mit ihrer kühlen Hand über die glühend heiße Stirn. Die andere Hand legte sie auf den Arm der Kranken, drückte ihn leicht und sagte dann mit weicher, sanfter Stimme: »Mein liebes Kind, ich weiß, wie schlecht es dir geht. Deshalb kann ich deinen Wunsch verstehen. Auch wenn ich ihn für Frevel halte. Aber glaube mir, Besserung ist in Sicht. Bald wirst du wieder gesund werden. Und sei gewiss, ich werde über dich wachen. Wenn du Hilfe brauchst, werde ich für dich da sein. Immer. Habe Vertrauen!« Sie drückte noch einmal leicht den Arm des Mädchens, strich erneut über die fieberheiße Stirn und trat dann langsam zurück. Mit jedem Schritt, den sie sich vom Bett des Mädchens entfernte, wurde sie durchscheinender, bis sie schließlich nicht mehr zu sehen war.
In dieser Nacht schlief die Kranke zum ersten Mal seit Langem tief und fest. Wachte nicht von Schmerzen gepeinigt auf, um stundenlang wach zu liegen und erst wieder schlafen zu können, wenn die Erschöpfung sie übermannte. Und die Vorhersage der Fee bewahrheitete sich. In den nächsten Tagen ließ das Fieber langsam nach. Mit dem Fieber wurden auch die Schmerzen geringer und der Zustand des Mädchens besserte sich. Es dauerte trotz allem noch einige Monate, bis sie völlig wiederhergestellt war. Aber als im nächsten Jahr endlich ihre Einschulung erfolgte und sie in der Klasse schnell neue Freundinnen fand, begann die Erinnerung an die schlimmen Wochen ihrer Krankheit nach und nach zu verblassen. Sie hatte niemandem von ihrem Traum, von der Fee, die ihr erschienen war, berichtet. Aber in ihrem Herzen hatte sich der Satz eingebrannt: »Wenn Du Hilfe brauchst, werde ich für Dich da sein!« Sie wusste, dies würde sie nie mehr vergessen. Gleichgültig, wie alt sie werden sollte oder wohin das Schicksal sie verschlagen würde.
Und nun war sie unvermittelt in eine Lebenskrise geraten, aus der sie allein keinen Ausweg fand. Die sie wieder krank zu machen drohte. In der wohl nur die Fee helfen konnte.
Sie hatte sich schon seit etlichen Monaten unwohl gefühlt. Hatte eine nie gekannte Unsicherheit verspürt. Irgendetwas war nicht im Lot gewesen. Und dann – an ihrem 16. Geburtstag – offenbarten ihr ihre Eltern, dass sie nicht ihr leibliches Kind sei. Als Säugling, direkt nach der Geburt, war sie von ihnen adoptiert worden. Eine Welt brach für sie zusammen!
Nach Überwindung des ersten Schocks fragte sie, was denn mit ihren leiblichen Eltern sei. Daraufhin berichteten ihre Adoptiveltern alles, was sie wussten:
Zwei sehr junge Menschen, beide vor einer Ausbildung stehend, fühlten sich zu jung um die Verantwortung für ein Kind zu übernehmen. Eine Abtreibung kam jedoch nicht infrage, außerdem war es zu spät dafür gewesen. Also hatten die beiden jungen Leute gemeinsam mit ihren Eltern beschlossen, das Baby direkt nach der Geburt zur Adoption freizugeben.
Ihre jetzigen Eltern versicherten ihr immer wieder, sie mindestens ebenso sehr, wenn nicht sogar mehr als ein leibliches Kind zu lieben. Ja, das glaubte das Mädchen ihnen natürlich. Auch sie liebte ihre Adoptiveltern nach wie vor. Schließlich hatten sie alles für sie getan und waren immer für sie da gewesen. Daran würde sich auch nichts ändern.
Und trotzdem war plötzlich alles so anders. Eine Sehnsucht, ein schmerzliches Verlangen erfüllte sie. Sie musste ihre leiblichen Eltern unbedingt kennenlernen! Sie hatten ihr das Leben geschenkt. Auch wenn sie anfangs versuchte, sich einzureden: »Ich müsste ihnen böse sein. Müsste sie hassen! Sie haben mich einfach fortgegeben«, fühlte sie nur Sehnsucht und Liebe. Dabei war ihr bewusst, der Wunsch, die leiblichen Eltern kennenzulernen, war schmerzlich für ihre Adoptiveltern. Fürchteten diese doch, die Liebe ihrer Tochter zu verlieren. Daraus resultierte ein tiefes Unbehagen, ein schlechtes Gewissen. Das Mädchen wusste nicht mehr ein noch aus. Fühlte sich unsicher, elend, krank. Nur waren die Schmerzen und das Fieber, an dem sie litt, nicht von körperlicher, sondern von seelischer Art, was alles nur noch schlimmer machte.
Deshalb hatte sie auch wieder an die Fee gedacht. Hatte sich gewünscht, sie würde wiederkommen, so wie sie es damals versprochen hatte und würde ihr helfen. Doch nichts geschah. So sehr sie auch die Fee herbeisehnte und sich oft schlaflos in ihrem Bett wälzte. Als sie endlich glaubte, ihr Wunsch würde in Erfüllung gehen, wurde alles nur noch schlimmer. Plötzlich hatte eine schwarze Gestalt in ihrem Zimmer gestanden. Sie war zu Tode erschrocken, hatte im Traum aufgeschrien und war dann schweißgebadet erwacht. Sie hatte nicht mehr schlafen können, hatte gerätselt, warum diese schwarze Gestalt zu ihr gekommen war. Doch so sehr sie auch grübelte, sie fand keine Lösung.
In der nächsten Nacht schlief sie noch unruhiger. Doch als plötzlich wieder dieses dunkle Wesen in ihrem Zimmer stand, konnte sie sich nicht sofort aus dem Traum befreien. Regungslos lag sie im Bett und musste zusehen, wie die schwarze Figur näher und näher kam. Erst als diese ihre Hand ausstreckte, um nach ihr zu greifen, konnte sich das Mädchen aus ihrer Starre lösen. Mit einem erstickten Schrei wachte sie schweißgebadet auf. Die Angst schlang kalte Klauen um ihr junges Herz. Die dunkle Gestalt war ihr ganz nahe gekommen. Sie spürte instinktiv, dass sie sich beim nächsten Mal nicht mehr aus dem Traum würde retten können.
Sie fragte sich verzweifelt, was geschehen war. Wo war ihre gute Fee geblieben? Warum hielt sie ihr Versprechen nicht ein? Schickte sie ihr diese dunkle Gefahr? War das die Rache für ihr törichtes Verlangen, ihre leiblichen Eltern kennenzulernen? Was würde geschehen, wenn die dunkle Gestalt sie berühren würde? Würde sie dann sterben?
In der nächsten Nacht hielt ihre Furcht sie lange wach. Doch irgendwann fiel sie in einen unruhigen Schlummer. Und dann kam der Traum. Plötzlich stand die dunkle Gestalt in ihrem Zimmer. Kam langsam auf sie zu. Näher und näher. Unfähig auch nur die geringste Bewegung zu machen, erkannte das Mädchen, dass in den schwarzen Stoffen ein Wesen steckte, welches eine Schwester ihrer Fee sein könnte. Nur in schwarzen Kleidern, mit dunkler Hautfarbe und mit schwarzen Haaren. Jetzt wusste sie es: Sie sollte für ihren Frevel bestraft werden! Sie konnte dem Traum nicht entfliehen und wartete nur noch, was geschehen würde, wenn die Hand der dunklen Fee sie berühren würde. Sie versuchte, sich gegen den Schmerz, der ihr bevorstand, zu wappnen. Dann legte sich die dunkle Hand auf ihre Stirn.

Doch was war das? Keine Schmerzenswoge durchfuhr sie. Die Hand war angenehm kühl. Und während sie noch starr vor Verwunderung in ihrem Traum verharrte, sagte die dunkle Gestalt mit einer genauso angenehmen und weichen Stimme wie ihre Fee damals: „Liebes Kind, du brauchst dich nicht zu fürchten.“ Und als könnte sie ihre geheimsten Gedanken lesen, fuhr sie fort: „Ihr Menschen hängt noch sehr an den überlieferten Vorstellungen. Nur weil ich eine dunkle Fee bin, denkst du ich wäre böse und hast Angst vor mir. Dabei bin ich genau so, wie meine helle Schwester. Wir wollen euch Menschenkindern helfen. Sie hier, wo eure Hautfarbe hell ist. Ich in Afrika, wo die Hautfarbe der Menschen dunkel ist. Meine Schwester hat deinen Hilferuf gehört. Sie konnte aber nicht sofort zu dir kommen, weil sie sich derzeit um viele schwerwiegende Probleme kümmern muss. Deshalb hat sie mich gebeten, dir zu helfen.“
Je länger die Fee zu ihr sprach, desto leichter wurde dem Mädchen ums Herz. Jetzt schämte sie sich sogar etwas, weil sie sich vor der Fee gefürchtet hatte. Auch diesmal schien diese ihre Gedanken zu lesen, denn sie sagte: „Schäme dich nicht. Es ist in eurer Geschichte so angelegt, dass ihr Böses mit Dunklem verbindet. Aber ihr seid dabei zu lernen, dass es anders sein kann und du hast es nun gelernt. Als Fee sage ich dir: „Stehe zu deinen Gefühlen. Tue, was du tun musst und suche deine leiblichen Eltern. Diese sind immer noch zusammen und haben dich nie vergessen. Ihr Leben wird leichter und schöner, wenn sie dich kennenlernen und spüren, dass du sie liebst. Und sorge dich auch nicht um deine Adoptiveltern. Sie verstehen deinen Wunsch und lieben dich nach wie vor aus ganzem Herzen. Wahre Liebe überwindet alle Schranken und baut Brücken über alle Abgründe. Du wirst die Liebe deiner Adoptiveltern nicht verlieren, sondern die Liebe deiner leiblichen Eltern hinzugewinnen. Es wird nicht leicht sein. Aber wenn ihr gemeinsam in Liebe zusammensteht, werdet ihr alle gewinnen und niemand wird verlieren!“
Bei diesen Worten strich die Fee ihr noch einmal über die Stirn. Dann trat sie zurück und wurde durchscheinender, bis sie schließlich nicht mehr zu sehen war.
Den Rest der Nacht schlief das Mädchen tief und traumlos.

Ich muss gestehen, dass ich mich nur unter Schwierigkeiten von der sich scheinbar allgemein ausbreitenden Politikverdrossenheit abkoppeln kann. Politik ist sicher ein schwieriges Geschäft. Ich meine aber, je schwieriger eine Situation ist, desto hilfreicher ist es, diese Situation zu klären und vor allem, klar zu kommunizieren. Das ist selten einfach, oft schmerzlich, aber fast immer hilfreich bis heilsam.
Seit vielen Jahren antworte ich auf die Frage, warum ich mich nicht aktiv in der Politik engagiere, mit folgender Aussage:
„Nach meiner Beobachtung führt längeres Verweilen im politischen Raum unweigerlich zum teilweisen bis vollständigen Verlust des gesunden Menschenverstandes. In diese Gefahr möchte ich mich nicht begeben!“
Trotz allem, aber auch wegen vielem, was man über Politik und Politiker sagen kann, möchte ich in keiner anderen Staatsform leben, als der Demokratie, in der wir seit 1949 leben dürfen. Hoffentlich hat sie noch lange Bestand!
Das Gedicht ‚Nach der Wahl‘ entstand nach der Landtagswahl 2010. Aufgrund des Ergebnisses ergaben sich keine klaren Mehrheitsverhältnisse. Das sich daraus ergebende Geschacher hat mich drei Wochen später dazu inspiriert.


Nach der Wahl

Der Wähler hat gesprochen,
doch was hat er gesagt?
Wäre sein Wort vorhersehbar,
man hätt’ ihn nicht gefragt!

Was ist der Grund, woran lag es,
dass keiner weiß Bescheid?
Es sprach nur gut die Hälfte,
damit kommt man nicht weit!

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