Leseprobe:
Verhängnisvolle Gnade (Maria Göthling)

Verhängnisvolle Gnade
Mystik, Magie Feenzauber

Die Sonne sandte soeben ihre letzten Strahlen auf die Erde herab, als eine Frau die Lichtung im Wald betrat. Ihre langen weißen Gewänder bauschten sich im Wind.
Schon kurze Zeit später erschien eine zweite, schwarz gewandete Frau. Sie sah der ersten so ähnlich wie eine Zwillingsschwester. Schwesterliche Liebe schien es zwischen den beiden allerdings nicht zu geben. Denn sobald sie sich gegenüber standen, hielt jede ein Schwert in der einen und einen Schild in der anderen Hand – wie zwei Kriegerinnen!
Blitzschnell und unerwartet tat die schwarz gekleidete Kämpferin einen Schritt nach vorn und eröffnete das Gefecht. Wuchtig und voller Kraft waren ihre Schläge. Aber die Waffe fand nicht ihr Ziel, sondern glitt am Schild ihrer Gegnerin ab. Gleichzeitig riss die ihr eigenes Schwert nach oben. Funken stoben, als sich die Klingen kreuzten. Lange wogte der Kampf zwischen den Titaninnen hin und her. Doch schließlich trug die mit der weißen Kleidung den Sieg davon.
„Los, Alana! Nun stich schon zu! Beende dein Werk! Dann hast du den Feenthron endlich für dich allein!“, keuchte die Besiegte außer Atem.
„Nein, das tue ich nicht, denn ich bin nicht wie du. Relindis“, sprach die Siegerin und trat einen Schritt zurück. „Ich schenke dir das Leben. Wie gern hätte ich mit dir zusammen die Geschicke unseres Volkes gelenkt, aber du hast dich durch deine Bosheiten und Intrigen dieses hohen Amtes als unwürdig erwiesen. Mein Reich darfst du deshalb nicht mehr betreten. Reise durch die Welt, erkenne deine Fehler und bessere dich!“
Sofort stand Relindis wieder auf den Füßen. Sie ergriff ihre Waffe und wandte sich zum Gehen. Als sie die Bäume schon fast erreicht hatte, drehte sie sich nochmals um.
„Du bist ja so einfältig!, verhöhnte sie ihre Schwester. „Wenn du mich endgültig hättest los sein wollen – dann, liebes Schwesterchen – hättest du mich schon töten müssen! Aber diese Chance hast du vertan! Ich danke dir, dass du es mir ermöglicht hast immer, wenn diese Nacht sich jährt, zurückzukommen und dich an deine Dummheit zu erinnern!“ Mit lautem, triumphierenden Gelächter verschwand Relindis.

Und genauso geschah es. Jedes Jahr, kehrte Relindis zurück, um Unheil zu stiften. Sie konnte immer nur einen Tag und eine Nacht bleiben, immer am 24. August und die Nacht darauf – am Jahrestag des entscheidenden Kampfes. Doch diese kurze Zeit reichte, um Angst und Schrecken in der Gegend zu verbreiten. Die Menschen hüteten sich davor, ihre Wohnungen zu verlassen, wenn das Böse in Gestalt der Fee Relindis umging
Aber im Lauf der Jahrhunderte ließ der Glaube an die Feenwelt nach. Und so kam es, dass auch niemand mehr von der Gefahr wusste, der Gefahr dieses einzigen Sommertages und der darauffolgenden Nacht.

Fünfhundert Jahre später:

Eine kleine Gruppe Jugendlicher streifte gemeinsam mit ihrem Lehrer Herrn Nolte durch die Wälder des Eichsfeldes. Jeder hatte außer Karte und Kompass auch eine Kamera dabei. Denn alle frönten demselben Hobby: Unter der Anleitung ihres Lehrers beobachteten und fotografierten sie die Natur. Demnächst würde sogar eine Ausstellung der besten Aufnahmen stattfinden. Aber noch war das Ganze nicht perfekt. Deshalb sollten heute die letzten Fotos geschossen werden.

Doch ausgerechnet heute war alles anders als sonst. Herr Nolte, auf den eigentlich immer Verlass war, hatte sich verlaufen. Das gab es noch nie! Ratlos stand die Gruppe nun bereits zum dritten Mal auf dieser, von sanften Hügeln umgebenen Lichtung. Der Wald erschien den Wanderern wie ein riesiges Labyrinth, von dem alle Wege immer wieder hierher führten.



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