Leseprobe:
Frostige Spuren (Creativo)


Klappentext
Frostige Spuren

Eiszeiten, Winterzeiten – von ihnen zeugen überall deutliche Spuren. Im übertragenen Sinn hat uns alle die noch längst nicht überstandene Pandemie eisige Zeiten im Miteinander aufgedrängt und ebenfalls Spuren hinterlassen.
Gleichwohl vermochte dieser Stillstand keineswegs die Phantasie von Autorinnen und Autoren der Creativo einzufrieren. Im Gegenteil - sie verstanden es weiterhin, Gedanken und Ideen in Bewegung und am Leben zu halten. Aus diesen lebendigen Datenfluten stammen die frostigen Spuren, die Eingang in die vorliegende Anthologie fanden.
Nun liegt es am interessierten Personenkreis, diese zu lesen, zu deuten und zu verstehen.

Viel Spaß und Freude dabei.
Manfred Piepiorka


Frostige Zeiten

von Gudrun Strüber

Was ist das für eine Welt? Gestern habe ich gesehen, wie eine Oma ihren Enkel nicht in die Arme schließen konnte. Die alte Dame hatte Tränen in den Augen, aber die Schwie­gertochter hielt den kleinen Knirps zurück. Sie redete auf das Kind und die Oma ein und erklärte die Situation, aber für beide wohl nicht zu verstehen. Der kleine Sohn wollte nun auch nicht mehr auf den Arm der Mutter.
Wie weh tat mir das, aber wie weh tat es sicherlich dem Kind und der Oma.

Kein Lachen mehr auf den Straßen, es erstickt hinter den Masken. Keine Umarmung, noch nicht einmal ein Hände­druck. Die Angst vor der Ansteckung erschafft Unberührbare, wie die Kaste in Indien. Sind wir nun alle Unberührbare?
Ohne den Kontakt zu den Mitmenschen erleben wir die Einsamkeit. Die Wissenschaft hat schon vor Jahren bewie­sen, dass Säuglinge die nicht berührt werden, unheilbar an der Seele krank werden und auch der Körper sich nicht richtig entwickelt.
Die Berührung untereinander ist überlebenswichtig. Telefon ist kein Ersatz für die menschliche Wärme einer Berührung – Ein Streicheln der Wangen, ein Händedruck, das Kämmen der Haare.

Die Oma ging zu einer Bank und setzte sich.
Ihr zitterten sicht­bar die Knie. Das Jammern und Lamentieren des kleinen Enkels war noch lange zu hören, auch als sie nicht mehr zu sehen waren.
Ich ging zu ihr und nahm in der erlaubten Entfernung die Maske ab.
„Darf ich Sie trösten?“, fragte ich und versuchte zu lächeln.

Erstaunt hob sie den Kopf. „Warum wollen Sie mich trösten? Die Welt ist verrückt geworden. Ich habe beschlossen, dass ich in diese Welt nicht mehr hineingehöre. Mein Entschluss steht fest. Ich werde gehen. Nur meinen Enkel wollte ich noch einmal sehen und in den Arm nehmen.“

„Geben Sie die Hoffnung doch bitte nicht auf! Die Zeit der Pandemie geht vorbei – irgendwann.“

„Soviel Zeit wie für ‘irgendwann’ habe ich nicht mehr. Ich bin jetzt 96 Jahre. Ich kann nicht mehr warten. Ich lebe im Nebel des Nirgendwo und Irgendwann. Meine Pflegerinnen kann ich nicht mehr erkennen mit der Maske, die Berührungen mit den Gummihandschuhen sind unerträglich. Mein Sohn ruft täglich an, aber seine Stimme am Telefon ist nicht herzlich, nur noch pflichtbewusst.
Wenn er mich doch anschreien würde, oder wenn er über die Situation schimpfen würde – irgendeine Emotion zeigen würde. Nein, immer nur Worte, nichtssagende Worte von „irgendwann wird es wieder normal“.
Nein, es wird nicht wieder wie vorher. Wir haben jetzt in die Hölle gesehen – in eine selbstgebaute Hölle. Corona wird uns nicht verlassen. Die Menschen werden lernen müssen, damit zu leben.
Die anderen – ja, aber ich nicht mehr! Mir ist so kalt. Emotionale Kälte nennen das die Psychiater, davon kann man eine Erkältung bekommen.“
Die alte Dame versuchte zu lachen. Die Anstrengung ging in einen Hustenanfall über.

„Sehen Sie, wir sind schon fast soweit, dass wir sagen können: Wer war zuerst da? Corona oder die Kälte? Oder war es die Kälte, die Corona gebar? Die Kälte, die das Geschäft des Geldverdienens umgibt? Die Gleichgültigkeit im Umgang mit der Natur und den Mitlebewesen?
Warum mussten den Marderhunden und Schleichkatzen bei lebendigem Leib das Fell abgezogen werden, so dass sie während der Prozedur schrien und massenhaft mit ihrem Atem die Viren verbreiteten? Da hat sicher jemand dran verdient.“

Ich machte einen weiteren Versuch, die Großmutter zu bewegen, ihren Plan zu überdenken.
„Denken Sie an ihren Enkel! Er ist noch so klein. Wenn er größer ist, wird er sich dann noch an seine Oma erinnern? Halten Sie noch durch! Ihr Enkel wird es Ihnen danken. Seine Liebe gehört Ihnen und die Liebe ist die einzige Kraft, die stärker ist als alles Leid.“




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