Leseprobe:
Freiheit ... hier und anderswo (Creativo)


Willkommen und Abschied von Dietrich W. Grobe

Man schrieb das Jahr 1944. Der Krieg schien einem Ende entgegenzugehen.
Anfang Juni waren 326.000 Soldaten der Alliierten an der Atlantikküste Frankreichs gelandet, russische Truppen marschierten in Ostpreußen ein, im verbleibenden Deutschland wurden Ende September letzte Kräfte unter der Bezeichnung Volkssturm mobilisiert.
Meine Großmutter, meine Mutter und ich (wir wohnten zusammen) bekamen zu der Zeit einen Brief aus der südlichen Lüneburger Heide. Eine befreundete Familie lud uns ein, die Ferien bei ihnen auf ihrem Bauernhof zu verbringen.
Das war ein gefährliches Unterfangen: Die Gastgeber gehörten wie meine Verwandten der missliebigen Bekennenden Kirche an. Doch wir kamen unbeschadet an.
Als Stadtkind genoss ich ein wenig die bessere Verpflegung auf dem kleinen Bauernhof, half mit bei der Feldarbeit, hörte gern zu, wenn von Land und Leuten erzählt wurde.
Die Tage waren zunächst fröhlich und unbeschwert, frei von den Sorgen des Alltags. Ich empfand ein ungewohntes Freiheitsgefühl.

Nach Einbruch der Dunkelheit fuhren Güterzüge dicht am Hof vorbei, die kleinen Lukenfenster waren mit Stacheldraht abgesperrt. Aus den Wagen hörte ich Schreie, Stöhnen und Klagen. In dem flackernden Licht einer Laterne zwischen Hof und Gleisen sah ich bleiche Gesichter, offene Münder und vor Grauen aufgerissene Augen. Doch bald waren die Züge vorbeigefahren. Ich hörte nur noch das Rollen der Räder in der Ferne.
Am Morgen fragte ich beim Frühstück, wohin die Züge führen. Der Hausherr antwortete knapp und bestimmt: „Nach Bergen - Belsen, das ist ein Lager.”
Mehr erfuhr ich nicht. Ich spürte, dass er mehr wusste, als er aussprach.

Ich schaute auf meine Wanderkarte, sah, dass Bergen- Belsen etwa 15 km vom Hof entfernt war, sagte im Haus kurz Bescheid und machte mich auf den Weg – immer den Bahngleisen entlang.
Wenig sah ich von Feldern und Wäldern, nichts hörte ich vom Gesang der vielen verschiedenen Vögel. Im Ohr hatte ich nur die Schreie der in den Güterwagen eingesperrten Menschen.
Nach längerer Wanderung sah ich dann das umzäunte Lager. Vorsichtig pirschte ich mich im Schutz von Wachol­derbüschen heran. Über dem Gelände lag ein unangenehm süßlicher Duft. Vorsichtig schlich ich bis kurz vor die Umzäunung, hockte mich hinter einen Busch und entdeckte einen Durchblick. Jetzt sah ich die Gefangenen, teils in gestreifter Häftlingskleidung, teils in Straßenanzügen. Sie lagen, knieten oder standen. Bei den Liegenden wusste man nicht, ob sie bereits verstorben waren. In einer Ecke betete eine Gruppe jüdischer Männer. Eine Frau sang ergreifende Totenlieder.
Zwei Frauen der Inneren Wache trieben mit Peitschen Gefangene vor sich her.
Am Ende des Lagers waren Arbeiter und Arbeitssoldaten damit beschäftigt, das Areal zu erweitern. Sie wurden streng bewacht. Ein Kind winkte mir zu – da wurde ich von hin­ten gepackt: Zwei Männer der Äußeren Wache in schwarzen Uniformen, begleitet von einem Schäferhund, hielten mich fest und führten mich in eine Baracke. Es erfolgte ein strenges Verhör, dann wurde ich entlassen.
Langsam ging ich den Schienen entlang zum Hof zu­rück.
Meine früheren Freiheitsgefühle wichen Gefühlen der Wut, der Verzweiflung und der Trauer. Wut gegenüber den skrupellosen Machthabern, Verzweiflung darüber, Gegebenes nicht ändern zu können und Trauer über die Toten, die ihren Glauben gelebt hatten.

Beim Abendessen auf dem Hof erzählte ich von den Erlebnissen des Tages. Der Hausherr schwieg und entnahm nach seiner Gewohnheit einem Schrank die Bibel, aus der er der Familie und uns vorlas. Es handelte sich um den Auszug der Kinder Israels.
Wir blieben noch einige Tage bei den freundlichen Gastgebern und reisten dann heim.

Nach Kriegsende erfuhr ich, dass in Bergen-Belsen mehr als 30.000 Menschen den Tod durch Mord, Hunger und Typhus gefunden haben. Von den 60.000 Überlebenden starben 13.000 an Entkräftung und Seuchen.

Die durch ihr Tagebuch bekannt gewordene Anne Frank (1929 - 1945) und ihre Schwester Margot waren Ende Oktober 1944 nach Bergen - Belsen überführt worden – wenige Wochen, nachdem wir in der Nähe waren, womöglich in einem der Güterwagen des Zuges, den ich beobachtet hatte. Beide Schwestern kamen im Lager ums Leben.

Ist das wirklich wahr? von Maria Göthling
09.11.1989

Es war schon spät, aber ich saß immer noch auf dem Sofa und sah in die Glotze. Mein Mann lag schon längst im Bett und schlief. Schließlich musste er morgen früh um 4.00 Uhr schon wieder am Bus stehen.

Jetzt war der alte Film, den das DDR-Fernsehen ausgestrahlt hatte, vorbei.
„Mal sehen, was der Westen bringt!“, dachte ich und stand auf, um ARD einzuschalten.
„Nachrichten“. Ich schaltete weiter: ZDF – auch Nachrichten! Mehr Auswahl hatte ich nicht!
„Egal – sehen wir mal, was es Neues gibt!“, dachte ich, setzte mich wieder und hörte zu.
Es dauerte eine ganze Weile, bis ich begriff, was da verkündet wurde: Die Grenze sollte offen sein!
Ich konnte es nicht fassen, glaubte einfach nicht, was ich hörte! Das war doch überhaupt nicht möglich! Noch mal umschalten zu ARD – die sagten dasselbe!
Endlich fiel bei mir der Groschen: Es stimmte! Die Grenze war wirklich offen!
Im nächsten Augenblick rüttelte ich meinen Mann aus dem Schlaf.
„Karl, die Grenze ist offen! Los, steh auf!“
„Lass mich schlafen!“, war sein Kommentar, ehe er sich auf die andere Seite drehte.
„Nein, du kannst jetzt nicht schlafen! Die Grenze ist wirklich offen! Glaub mir doch endlich! Komm mit ins Wohnzimmer, dann siehst du es selbst! Los, komm! Das ist ein historischer Moment!“
Karl wollte von historischen Momenten nichts wissen, er wollte schlafen!
Ich glaube, nur um Ruhe vor mir zu bekommen, ist er dann doch aufgestanden. Schlaftrunken ließ er sich auf das Sofa fallen. Einen Moment später war er hellwach. Lächelnd beobachtete ich, dass es ihm auch nicht viel besser ging als mir. Auch er saß zunächst nur da und staunte. Doch beim Staunen blieb es nicht. Die Gefühle, die uns an diesem Abend überschwemmten, kann ich gar nicht beschreiben. Euphorie, Glück – und Trauer, weil wir nicht live dabei sein konnten.
Eng aneinander gekuschelt sahen wir den vielen, vielen Menschen zu, die sich am Brandenburger Tor in die Arme fielen, die gleichzeitig lachten und weinten. Wir sahen die Trabbis, die in den westlichen Teil der Stadt rollten, die jungen Leute, die oben auf der Mauer standen und Sektflaschen schwenkten und, und, und …
„Sag mal, ist die Grenze nur in Berlin offen oder überall?“
„Überall, überall, überall!“, jubelte ich.
„Das müssen wir feiern! Haben wir noch Sekt im Keller?“
„Ja, eine Flasche müsste da sein.“
„Ich hole sie!“ So schnell hatte ich meinen Mann schon lange nicht mehr in den Keller flitzen sehen. Lächelnd nahm ich die guten Sektkelche aus der Vitrine und suchte nach dem Pralinenkasten, den ich noch irgendwo haben musste.
„Du, ich gehe morgen nicht zur Arbeit!
Die Kinder schicken wir auch nicht zur Schule. Wir fahren nach Duderstadt!“, sagte Karl, als er wieder oben war.
„Hm, schön wär‘s. Aber morgen ist bestimmt alles verstopft. Ist wohl besser, wenn du zur Arbeit gehst und die Kinder die Schule besuchen. Einen Tag später, also am Sonn­abend, steht Duderstadt auch noch. Dann haben sich die Menschenmassen vielleicht schon etwas verlaufen.“
„Oder auch nicht! Wenn wir ein Auto hätten! Noch heute Nacht würde ich fahren! Aber auf unsern Trabbi muss ich noch fünf Jahre warten.“
„Vielleicht brauchst du das nicht. Vielleicht kannst du bald ein Westauto kaufen! Warten wir`s ab!“, schmiedete ich Zukunftspläne.
„Aber jetzt ist`s spät. Komm, mein Schatz, lass uns schlafen gehen!“


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