Leseprobe:
Farbenfroh (Marianne Voss)

Malen kann ich doch
Angela Kasper

Ich erinnere mich an einen Schultag.
Der Unterricht im Fach Kunst fand draußen im Park statt, nahe dem Wald. Frau Gerlinde Jäger war mei­ne Lieblingslehrerin. Sie ließ uns 15 Minuten, ohne zu sprechen, Sinneseindrücke sammeln. Auch Farben, Geräusche und Begebenheiten. Wer wollte, konnte dabei seine Augen schließen.
Ich wollte nicht. Ich wollte sehen und hören. Alles. Und außerdem wäre ich gerne länger draußen geblieben.

Wieder zurück im Klassenzimmer angekommen, stand das Thema schon an der Tafel:
Die Welt der Farben.
Sogleich beugten sich alle über ihr Heft und fingen emsig an zu zeichnen.

Ich schaffte grade mal, die Überschrift abzuschrei­ben, als ich jemanden leise sagen hörte: „Male doch mich.“

Überrascht schaute ich um mich herum und raunte: „Malen kann ich nicht. Wer bist du überhaupt?“
„Ich bin die Farbe, welche du suchst“, bekam ich zur Antwort.
„Ich kann dich nicht sehen, wie siehst du denn aus?“, entgegnete ich.

„Finde es heraus und folge mir“, flüsterte die Stimme freundlich in mein linkes Ohr. Da gruselte es mir. Ich fürchtete mich vor jedem Pinselstrich, den ich noch gar nicht ausgeführt hatte.

Schroff entgegnete ich: „Wie kann ich dir folgen, wenn ich dich nicht sehe? Außerdem habe ich kei­ne Zeit. Ich habe hier zu tun.“
„Eben darum bin ich zu dir gekommen“, hörte ich die Stimme noch sagen.

Und da nahm ich schon mit Schwung alle meine Farben. Ich verteilte sie klatschnass tropfend mit flacher Hand auf dem weißen Blatt.

Ja. Ich kann malen.

 

zurück