Leseprobe:
Erleben gibt es nur im Leben ( Manfred Piepiorka )

… das bisschen Leben

Der vom Heizkörper aufsteigende Luftstrom bewegt die Gardine an der oberen Hälfte des Fensters. Seit einigen Minuten tobt draußen ein starker Schneefall. Mit der weißen Pracht ändert sich der Ausblick. Schon nach wenigen Metern versteckt der winterliche Niederschlag jegliche Strukturen. Obwohl erst früher Nachmittag herrscht Zwielicht wie in der Dämmerung.
Der möblierte Raum ist kein Vorzeigemodell, genügt seinem Bewohner jedoch. Im Cocktailsessel am Fenster sitzt Christian und starrt in die Flockenwirbel. Ohne wirklich etwas wahrzunehmen, verliert sich sein Blick darin. Dabei entwickelt er eine sonderbare Stimmung. Die Gedanken des Endfünfzigers befinden sich auf Wanderschaft. Irgendetwas, vielleicht ein Duft, womöglich ein Geräusch, hat die Tür in die im Gehirn gespeicherte Vergangenheit geöffnet. Hindurch geschlüpft gleiten sie an unzähligen Stationen der Erinnerungen vorbei. Christians Suchgedanke interessiert sich für etwas ganz Bestimmtes. Endlich ist der gewünschte Archivabschnitt erreicht. Als hätte es das nachfolgende Leben nie gegeben, verwandeln sich imaginäre Farben, Gerüche und Empfindungen – werden reales Erleben in einem neuen Jetzt und Hier …

„Ich weiß nicht, was de hast. Herbert hat einen Führerschein. Warum soll er nicht fahren? Mit Peters Bulli wird er doch wohl klarkommen.“ Friedrich lacht ein wenig albern. Der einverleibte Alkohol macht sich wie bei jeder Person dieser Fete deutlich bemerkbar.
Susanne, eine der insgesamt mehr als zwanzig jungen Mädchen und Jünglinge, grinst schief: „Genau Christian. Du gönnst uns den Spaß auf der Kirmes einfach nicht.“ Ins gleiche Horn blasend, quietscht Astrid: „Typisch! Du und deine übertriebene Vorsicht. Mein Gott, mal mit ´nem Bier im Bauch fahren. Wo ist das Problem?“ Davon angespornt bekräftigt der anfangs erwähnte Herbert: „Richtig, das bisschen Plörre. So´n Fingerhut Bier macht mir gar nichts. Mein Gott, da hab´ ich schon anderes … Und den VW-Bus? Man, den lenk´ ich im Halbschlaf!“
So hacken nun alle in der Nähe Stehenden auf Christian herum. Nicht zum ersten Mal. Dabei ist Christian eigentlich der einzige in der Clique, der stets weiß, wann es genug ist. So auch in dieser Situation. Nach weiteren verbalen An­griffen setzt er zur Verteidigung an: „Alles Quatsch! Ich bin weder übervorsichtig noch eine Spaßbremse. Aber Leute! Alkohol im Blut und damit Auto …“
Weiter kommt Christian nicht. Friedrich unterbricht ihn laut: „Hör auf, ich glaube eher, du hast Schiss in der Hose. Man, wie kannst de nur so ´ne Angst um dein bisschen Leben haben? Echt, das verkümmert noch ganz in dir!“
Im abwertenden Gelächter verkneift Christian sich jede weitere Diskussion. Er spürt, dass das niemals fruchten wird. Unzufrieden mit sich, seinem Kneifen, greift er seine Jacke und folgt den anderen.

Der Zeitungsbericht am Tag darauf bringt nur einen Teil der Fakten. Das dazugesetzte Foto zeigt mehr. Einen VW-Bus, der sich mit der Beifahrerseite eng und beinahe wie ein Bumerang um einen mächtigen Baumstamm klammert.
Der Leser erfährt: „Tragischer Unfall auf der Bergstraße. Eine Achtzehnjährige überlebte den Crash nicht. Fünf Begleiter erlitten zum Teil erhebliche Verletzungen. Der Rettungsdienst brachte sie in umliegende Kliniken. Dem nahezu unverletzten neunzehnjährigen Fahrer entnahm die Polizei eine Blutprobe. Seinen erst kürzlich erworbenen Führerschein stellte sie sicher. Für die Bergungsarbeiten wurde die Hauptverkehrsstraße mehr als drei Stunden komplett gesperrt.“

Ein undefinierbares Geräusch reißt Christian aus den her­aufbeschworenen Erinnerungen. Er benötigt ein paar Sekunden, um ins aktuelle Leben zurückzukehren. Der klar­werdende Blick aus dem Fenster zeigt, es schneit wie zuvor. Nichts hat sich verändert. Jedenfalls hier im Jetzt nicht. Da­mals jedoch …

Christian spricht zu sich selbst: „Ja, war in jenen Tagen und Wochen schon ´ne schlimme Sache. Susanne tot. Herbert … Scheiße auch! Hat das nie verwunden. Nahm sich Wochen später das Leben. Ich weiß nicht, wie ich an seiner Stelle …
Und die anderen? Die körperlichen Verletzungen heilten und jeder fand irgendwie zurück ins Leben. Aber es war für die meisten ein anderes, ein weniger leichtlebiges. Unsere Clique fiel völlig auseinander. Keiner konnte den anderen noch frei in die Augen sehen. Alle Beteiligten zogen letzt­endlich weg. Am Ort des Geschehens wohne eigentlich nur noch ich.“
Christian erhebt sich mühsam und schwer atmend. Er schlurft zur Anrichteplatte der Küchenzeile. Bei jedem Schritt das rechte Bein nachziehend. Sein Andenken an den Unfall. Der Tee ist noch warm. „Ah, wie tut das gut“, entfährt es Christian, „Winter vorm Fenster und ein warmes Getränk in der Hand!“
Während er erneut zum Fenster blickt, schiebt sich ein damals erwähnter Satz in den Vordergrund seiner Gedanken. Er hat ihn nie vergessen. Diese kurze, aber lapidar dahingesagte Frage: „ … wie kannst de nur so ´ne Angst um dein bisschen Leben haben?“
Christian lacht verhalten, etwas ironisch in sich hinein: „Das bisschen Leben … von wegen. Nee, es war nicht nur ein bisschen. Es war mehr, sehr viel mehr. Eigentlich alles: Träume, Erwartungen, Lust auf Unbekanntes, Hunger aufs pure Erleben und ungewisse Angst, vor dem, was wohl kommen würde. Und heute? Ja, heute, jetzt! Scheiße, inzwi­schen ist es das dann wohl tatsächlich für mich: ein bisschen Leben. Verdammt, die Ärzte werden Recht behalten.
Aber nein, so sollte ich nicht denken. Nee, das Leben, die Lust daran, die verkümmert doch nie. Es ist präsent, fast penetrant im Bleiben bemüht … das Leben. Allerdings ändert diese Tatsache nicht eine andere. Leben, es endet, nur wann – das steht in den Sternen.“
Langsam bewegt sich Christian zum Cocktailsessel zurück. Sein Blick erfasst das Fenster. Der Schnee fällt wie eine undurchdringliche Masse. Die Gedanken des Endfünfzigers verschmelzen mit ihr: „Ha, das bisschen Leben! Bisher ist es der Menschheit jedenfalls nicht einmal ansatzweise gelungen, Leben zu schaffen. Na ja, mal abgesehen von in vitro Zeugung.“

Eine winzige Pause: „Leben kann man bestenfalls heilen. Scheidendes Leben manchmal ein wenig aufhalten. Mehr aber nicht! Sehe ich ja bei mir. Alles nur Stückwerk. Trotzdem: Leben ist niemals nur ein Bisschen! Es ist einzigartig, unwiederbringlich und nicht erneuerbar. Wenn ich schon höre, wie da argumentiert wird: die Lebenserwartung ist vorbestimmt. Schicksal, Kismet oder dergleichen. Oder: jeder ist eigenverantwortlich. Muss sich orientieren, was für sein Leben, für dessen Dauer gut oder schlecht ist. Mannomann, was müssen alles für Begrifflichkeiten herhalten, um die Begrenzung unseres Daseins zu erklären? Am besten, man macht sich darüber keine weiteren Gedanken. Bringt eh nichts.
Und wenn es dann eintritt … das Ende? Wie gehe ich damit um? Mit einer Art Bedauern? Mit Angst? Oder tragen mich Erlösungsgedanken? Bricht da womöglich mein Kindheitsglauben hervor? Ich weiß es nicht. Vielleicht trifft ja sogar von Allem etwas zu. Und wie sagte ein guter Freund, als ich das Wort bisschen für mein Leben erwähnte? ‚Es ist mehr. Jedes Leben ist schließlich ein wichtiges Ritzel im Räderwerk der Natur. Es hat die Aufgabe, erworbenes Wissen weiterzugeben. Etwa durch Gründung einer Familie, als Transportmittel an nachfolgende Generationen. Jedes einzelne Leben ist da, um irgendwann verstehen zu können, was es ist, wie es funktioniert, wo es herkommt und vielleicht … wie man es erschaffen kann.‘
Ja, ich glaube, er hat Recht. Es ist wahr, man darf Angst haben, sein bisschen Leben zu verlieren. Denn es ist wichtig und Teil eines Ganzen. Das darf mich zufrieden und auch stolz machen. Wenn ich gehe, bleibt doch etwas hier.“

 

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