Leseprobe:
Der Gesang des Einhorns (Manuela Tietsch)
"Oh Gott!", rief die Rothaarige
neben ihm erstickt aus. "Was ist das?"
"Sie sehen aus, als würden sie gleich aus dem Kasten steigen!"
Sie griff nach Jaromirs Hand.
"Da!" schrie sie plötzlich. "Sie bewegen sich!... Sie
bewegen ihre Hände!"
Jaromir konnte nicht sprechen. Die Worte blieben ihm im Hals stecken.
Die Leichen hoben ihre Arme.
Wie gebannt starrte Falko auf seinen Bruder und die Blonde, und die beiden
Toten.
Um sie herum tauchte das gelblichgrüne, schweflige Leuchten alle Gegenstände
in sein gespenstisches Licht. Selbst aus den Toten schien dieses Licht herauszudrängen.
Inzwischen hielten die Leichen ihre Arme an den Ellenbogen abgeknickt und
zeigten mit den Händen auf die Blonde und Lando. Ein Strahlen zog wie
eine Welle über ihre nun wunderschönen Gesichter. Alles Verschrumpelte
war von ihnen abgefallen.
In die Blonde und Lando kam Bewegung.
Sie wendeten sich einander zu, eingehüllt in das gespenstische Licht,
das gleiche überirdische Strahlen auf den Gesichtern. Sich über
dem Glassarg bei den Händen haltend, schritten sie um den Glaskasten.
Sie auf der einen, Lando auf der anderen Seite.
Auf Höhe der Hände der Toten angelangt, senkten sie die eigenen
Hände nieder und berührten an dieser Stelle das Glas. Ein lautes
Klirren erschütterte die Luft. Das Glas zersplitterte, die Hände
der Toten streckten sich Runa und Lando entgegen. Sie senkten ihre Hände,
berührten sich.
Falko stöhnte auf, unfähig zu sprechen. Was hier geschah überstieg
seinen Verstand. Es war unglaublich. Er fragte sich, ob der Zauber nicht
vielleicht der Reißer der Ausstellung war.
Ein lauter Donnerschlag zerriß die Luft. Freigelegter Strom surrte
um den Kasten und die zwei Menschen herum. Unmittelbar nach dem Donnerschlag
hörte Falko ein unheimliches Zischen.
Ein Blitz schlug ein, sauste wie ein Zackenschwert auf die Hände herunter
und entzündete ein Feuer. Laut surrend umkreiste der Strom den Glaskasten
wie ein Rudel Wachhunde, die Unbefugten den Eintritt verwehrten. Das Feuer
fand Nahrung.
Einen Augenblick neigten sich Runas und Landos Seelen zueinander, ihrer
gemeinsamen Rückreise in die Vergangenheit entgegensehend. Die Reise
begann mit Dunkelheit. Ein Schleier legte sich auf das Jetzt, ließ
sie ihr jetziges Leben vergessen und in das Alte eintauchen.
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