Leseprobe:
Rotes Haar und Ebenholz (Sonia Schröder)

R o t e s H a a r u n d E b e n h o l z

Nachmittags halb vier, ein kalter regnerischer Novembertag. Es dunkelt bereits. Katja und ich sitzen in der Wohnstube. Ausnahmsweise hat Mutter für uns den Ofen angemacht. Das tut sie sonst nur an Sonntagen. Geld ist knapp, deshalb auch Kohle und Holz. Aber heute dürfen wir in der warmen Stube sein. Unsere Schularbeiten haben wir gemacht, jeder zu Hause. Jetzt sind wir frei. Wir zündeln ein wenig in der Ofenglut, rösten ein paar Brotscheiben auf der heißen Platte und reden über die doofen Lehrer, ihre Schikanen und abstehenden Ohren. Wir planen am Ofen den Widerstand. Beim nächsten Mal würden wir aufstehen, wenn ein Pauker dem Otto wieder ‚Lumpenpack‘ an den Kopf wirft oder ‚asozial‘ oder ‚der Apfel fällt nicht weit vom Stamm‘. Wir würden aufstehen, diesen Lehrern was in die abstehenden Ohren schreien und Otto mit uns nach draußen nehmen. Dann einfach nach Hause gehen.
Der Kanonenofen heizt ordentlich ein, unsere Gemüter erhitzen sich mit. Otto der Sündenbock – und dann auch noch rothaarig! Er war zweimal zu spät gekommen und hatte keine sauberen Fingernägel, Hose nicht stramm genug gezogen und nicht immer saubere Schuhe. Hatten andere auch nicht immer, aber bei Otto war´s eben anders – Lumpenpack, wohnhaft am Brink, heute noch eine unsichtbare Grenze.
Der Ofen glüht, wir glühen mit ihm in noch hitzigere Reden und Gesten, mit denen wir Otto retten wollen. Katja öffnet immer wieder die Klappe, wir schreien unseren Protest in die Flammen. Draußen ist es stockdunkel.
Mutter kommt.
„Es ist fünf Uhr. Du wolltest doch gehen, Katja.“
„Ja, danke.“
Ich begleite Katja auf unseren Flur im zweiten Stock und mache Licht an der Treppe. Sie liegt zu dicht an der Küchentür. Da ist schon manch einer runtergeruschelt. Unten im Flur taste ich lange nach dem Ziehschalter. Katja wartet. Endlich! Das Licht neben der Haustür geht an. Ich habe noch nicht die Klinke in der Hand, da stürzt das Tantchen aus ihrer Wohnung, steuert auf den noch schwingenden Faden zu, reißt an ihm, hat den Knopf in der Hand, aber das Licht geht zu ihrem Glück aus.
„Licht wird erst um sechs gemacht!“, schreit sie.
Wir schreien nicht zurück. Katja stolpert über die Schwelle hinaus in den nasskalten Regen. Ich schäme mich und gehe zurück, falle über den Läufer, der sich beim wütenden Schritt der Tante zusammengeschoben hatte und verstauche mir den Fuß.

Am nächsten Tag verteidige ich Otto nicht. Neben Katja mit aufmüpfigem Gang über den Schulhof gehen, das schaffe ich nicht, auch nicht entspannt an Tantchens Wohnungstür vorbeigehen. Trauer anstatt Gluthitze.
Fünf Jahre noch die Lumpenottos, das Lumpenpack, die Zwölf-Uhr-Essenszeiten pünktlich, sonst gibt´s was, die Wäsche nicht am Sonntag waschen und keinen Freund vom Brink haben dürfen und schon gar keinen mit roten Haaren, weil die wie Ebenholz sind und beide auf keinem guten Boden wachsen.

Dann bin ich soweit, schreie meinen Protest in alle Lehrer und Tanten hinein, wie damals in die Flammen des Kanonenofens und packe meinen Koffer.
Jetzt wohne ich in einem anderen Land. Da sind Lichter, die ich, wenn es stockdunkel ist, anmachen darf und wo ich mit einem Rothaarigen …

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