Leseprobe:
Mein Augenzugesicht (Hella Lach)

Waldesruh (Titelgebene Erzählung)


„Zum verborgenen Wiesengrund, dem Wald hinter den Elbwiesen, dorthin möchte ich noch einmal gehen. Möchte dem Bachlaufgeplätscher lauschen, träumen im bunten Wiesenblumengras und den herrlichen Sinnenverwirrduft wahrnehmen. Im Sommersonnenhimmelsblau die Wölkchen ziehen sehen und Sauerampferblätter pflücken und schmecken auf meiner Zunge – wie damals – als meine Hände Kräuterblumenbüschel pflückten. Lasse es über mein Augenzugesicht fallen. Es kitzelt, duftet, raschelt, liebkost meine Lippen wie ein süßer Kuss. Ach, könnte ich noch einmal dort sein, nur noch einmal alles sehen!“
Agnes streicht Dorothea liebevoll über die Hand.
„Vielleicht wird dieser Traum einmal in Erfüllung gehen, Dorle. Doch jetzt ruhe ein wenig“, sagt sie leise und zieht die Übergardinen vor das Fenster. Behutsam schließt sie die Schlafzimmertür hinter sich.

Sie betreut seit fünf Jahren Dorothea, die in diesem Jahr 90 wird. Zwischen ihnen beiden war so etwas wie eine Oma/Enkelin-Freundschaft entstanden. Agnes seufzt.
„Die alte Dame“, sie gluckst laut vor sich hin – das darf man keinesfalls in ihrer Gegenwart sagen, „ist noch gut beisammen. Topfit im Kopf und immer interessiert am aktuellen Tagesablauf und an den Nachrichten. Und an den Menschen, die sie in ihrem langen Leben kennengelernt hat und jenen, die sie heute noch begleiten.“

Ihren ‚Dickkopf‘, ja, den hat sie immer noch. Man hatte sie gewarnt, diese Begleitung anzunehmen. Während dieser Gedankengänge erledigt Agnes ihre gewohnten Aufgaben im Hause von Dorothea Schmiedemerker. Sie war die verwöhnte Frau eines Industriellen gewesen. Die Ehe war kinderlos geblieben. Sicher brauchte sie sich nie um Alltägliches zu sorgen.
Agnes ist es wichtig, in einem gebildeten Umfeld zu arbeiten. Und sie hat Dorle sehr gern.
Alles kann man kaufen, nur Gesundheit nicht, sinniert Agnes. Dorles Vitalität scheitert am Laufen. Strikt weigert sie sich, in einem Rollstuhl herumgefahren zu werden. Heute war ihr diese Einschränkung wieder richtig bewusst geworden. Von ihrem großen Terrassenbalkon hat sie einen weiten Blick über den Seerosenteich und den parkähnlichen Garten. Immer öfter fallen ihr Erinnerungen ein an die Zeit, als sie noch jung war.
Eines Tages wird es mir vielleicht auch so ergehen, denkt Agnes und schaltet um auf die Idee, die ihr bei dem Wunsch Dorles gekommen war. Ein paar Vorbereitungen sind nötig, aber morgen ist ihr freier Tag. Sie beginnt, sich erste Notizen zu machen.

Sommersonnenhimmelsblau. Sie schreibt alle diese bezaubernden Wortschöpfungen auf, die Dorle so sehnsuchtsvoll formulierte, dabei fallen auch ihr welche ein. Ein herrliches Wortspiel, denkt sie und verbindet es sofort mit der ihr ebenfalls nahestehenden Natur.
„Kann sie nicht in den Wald gehen, so hole den Wald zu Dorle“, spricht sie laut und malt es sich in den schönsten Farben aus, frühmorgens im kühlen Waldesgrund zu sein. Mit dieser Vorfreude weckt sie Dorothea und beide verbringen noch harmonische Stunden miteinander. Diese kommt nicht mehr auf ihre Schwärmerei vom Vormittag zurück.

Agnes hatte alles vorbereitet. Mit keinem Wort hat sie Dorle etwas angedeutet. Während deren Mittagsruhe schmückt sie den Balkon mit vielerlei gesammelten Naturutensilien des Waldes und der Wiesen und verwandelt ihn in ein Duftmeer. Sie bittet ihren Pflegling, vor Betreten der Terrasse die Augen zu schließen.
Dorle schnuppert, als sie in ihrem bequemen Sessel sitzt, und ruft begeistert aus: „Agnes, ich rieche den Wald!“ Sie klatscht vor Freude in die Hände. „Darf ich die Augen öffnen?“
„Nein, noch nicht“, flüstert Agnes und legte ihr ein leichtes Chiffontuch um den Kopf und über die Augen. „Liebe Dorle, lass dich zurückfallen in eine frühere Zeit. Nun denke wieder an einen dieser wunderbaren Tage, als du im verborgenden Wiesengrund im Wiesenblumengras gelegen und die Kräuterblumenbüsche auf dein Augenzugesicht hast fallen lassen. Erblicke die Wölkchen im Sommersonnenhimmelsblau. So blau wie diese Beeren.“ Sie legt ihr einen Zweig in die Hand. „Erkennst du sie?“
Dorles Finger befühlen vorsichtig das zarte Gebilde von Blättern und Beeren. Sie ertastet eine Beere, führt sie zum Mund und zerdrückt sie mit der Zunge. „Heidelbeeren! Blaubeerenblau wird meine Zunge sein“, kichert sie und pflückt sich noch ein paar, wobei sie die Blätterränderform abtastet, um sie vor ihrem inneren Auge zu erkennen. Nach einer Weile nimmt Agnes ihr den Zweig ab und stellt ihn in eine Vase.
„Dorle, ich setze dir jetzt ein Tablett auf den Schoß. Nun stell dir vor, du bist in einem Wald. Durch die hohen Bäume ist es sehr dunkel, doch du spürst jetzt die Sonnenstrahlen, die durch die Baumwipfel blinzeln. Und du sitzt auf dem Waldboden. Um dich herum findest du alles, was auf diesem Tablett liegt.“
Dorothea lehnt sich entspannt zurück an die Lehne ihres Sessels. Ja, sie spürt die warmen Sonnenstrahlen und saugt die Luft tief ein, dabei fährt sie mit der flachen Hand über ihren Schoß. „Moos, weiches Moos, kratziges Moos.“ Sie streicht mit den Fingern darüber. „Moosgrün, Baummoosbraun.“ Schon lässt sie ihrer Fantasie freien Raum.

„Oh, das hier ist Samt-Kurzbüchsenmoos.“ Nun hält sie es nicht mehr aus und zieht sich das leichte Tuch vom Kopf. Ihre Augen strahlen, als sie in einer Ecke des Moosteppichs auch noch Pilze findet. Der leichte Modergeruch von Waldboden ist für sie schöner als das teuerste Parfüm. Sie saugt ihn förmlich in sich ein.
„Agnes, mir solch eine Freude zu machen, das werde ich dir nie vergessen, komm …“ Sie streckt ihr beide Arme entgegen und dann spürt sie Agnes´ Wange an ihrer. „Du machst mir so viel Freude, Danke, liebe Agnes!“

Dorles Blick nimmt die liebevoll auf der Terrasse verteilten Sträuße, Zweige und auch die urigen verknorpelte Äste auf. „Hilf mir bitte, ich möchte alles aus der Nähe ansehen und befühlen. Ich sehe, bei jedem Stückchen hast du an mich gedacht und gewusst, es wird mir gefallen.“
Agnes hilft Dorle aus dem Sessel und führt sie über die große Terrasse. Schritt für Schritt nimmt Dorle ihre Freude mit, die sich bei jeder Blume, jedem Halm, ja wirklich bei jedem Teil vergrößert und dabei sprudeln viele vergessene Erinnerungen wie Bächlein aus ihr heraus. Die dunklen davon – verschloss sie schnell wieder, die schönen aber verband sie geschickt mit kleinen spritzigen Episoden. Lange schon hatten beide nicht mehr so herzhaft zusammen gelacht. Und nun sitzt Dorothea wieder in dem Sessel. Erschöpft, aber unsagbar beglückt. Ein Glas Rotwein in der Hand, prostet sie der untergehenden Sonne zu:
„Schick Edmund meine Grüße und – er muss noch etwas auf mich warten.“

 

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