Leseprobe:
Das Artefakt im Asteroidengürtel (Hartmut Großer)


Kapitel 1

Dicht über der Atmosphäre der blühenden Welt materialisierten die kleinen, etwa zwölf Meter langen Raumflugkörper. Programmgemäß warfen die Bordcomputer die ausgebrannten Transmitterstufen ab, starteten die Impulstriebwerke und beschleunigten auf Durchbruchgeschwindigkeit. Die Primär- und Sekundärziele wurden über die Zielverfolgungssysteme der Mehrfachsuchköpfe der Flugkörper anvisiert und danach angesteuert. Immer mehr dieser torpedoförmigen Miniraumer tauchten aus dem Hyperraum auf und schossen als winzige Lichtpünktchen auf die Oberfläche des Planeten zu. Unaufhaltsam rasten sie ihren Bestimmungsorten entgegen, den millionenfachen Tod in sich tragend. Kein Frühwarnsystem war in der Lage, sie rechtzeitig zu erfassen, geschweige denn aufzuhalten. Für die Weitbereichsscanner, die unablässig den Raum nach feindlichen Objekten absuchten, bildeten die Flugkörper wegen ihrer Größe und ihrer strahlenabsorbierenden Hülle nicht das geringste Ziel. Außerdem tauchten sie zu nahe am eigenen Gebiet aus dem Überraum auf. Selbst die präzisen Zielsucher der Energiewerfer konnten sie nicht mehr orten, da sie hinter den Abwehrlinien der Planetensicherung materialisierten. Von niemandem erwartet und damit für alle Lebewesen unvorbereitet, traf das Verderben ein. Als der erste Glutball den Einschlag eines der Geschosse markierte, war es für jegliche Gegenmaßnahmen zu spät. Wehrlos waren die Geschöpfe des Planeten dem Tod aus dem All ausgeliefert. Gewaltige Feuerkugeln flammten auf und verbrannten die Städte und Industriezentren. In der Lenkzentrale des inneren Sicherungsbereichs, auf dem zweiten Mond der bewohnten Welt, stand Sektorenkommandant Vorg Tabor fassungslos und leichenblass vor den Holographen-Schirmen des Kommandopultes. Seine verantwortungsvolle Aufgabe bedeutete die Koordination der Feuerleitgeräte des direkten Systemschutzes um CARAN, doch gegen solch eine Überraschungsaktion war er vollkommenmachtlos. Rein zufällig hatte er einen der winzigen Flugkörper erfasst und, neugierig geworden, dessen Bahnkurve ins Ziel verfolgt. Die aufgrellende Flammenkugel ließ ihn regelrecht vor Schreck erstarren. Unfähig zu einer Bewegung, registrierte er aus den Augenwinkeln den nächsten Feuerball. Der große Panorama-Holograph an der Wand zeigte nur einige winzige Lichtpunkte, aber er stellte auf den mannigfaltigen Bildschirmen seines Kommandopultes immer neue Explosionen fest. Bald gab er auf, sie zu zählen und beobachtete hilflos das Ende der Heimatwelt. In den Ohren dröhnten die Schreie der Verletzten und das schmerzliche Stöhnen der Sterbenden, das über die noch intakten Telemetriekanäle aus den Lautsprechern seines Pultes drang.Gleichzeitig erreichten die Bilder der Aufklärungssatelliten aus dem SELTOS-System die Steuerungszentrale auf LORUS, dem äußeren und kleineren der beiden Monde CARANs. „Abschuss der INTRO-Gefechtsköpfe, Kommandant. Gleich ist es vorbei“, meldete eine vor Erregung heisere Stimme von den Überwachungskonsolen weiter vorn. Anscheinend hatte der Mann dort noch nichts von der schrecklichen Katastrophe mitbekommen, die die Heimatwelt traf. Einer der Holographen-Schirme seiner Konsole zeigte die feindliche Welt im Nachbarsystem, auf einem anderen verglühten im energetischen Trommelfeuer der gegnerischen Abwehrbatterien die letzten Kampfschiffe CARANs. Trotzdem leuchteten die Augen des Schmächtigen und neben den hektischen Bewegungen zeigte das rote Gesicht die Freude über den gelungenen Angriff. Das risikoreiche Manöver bekundete einen vollen Erfolg, obwohl die Caraner, genau wie deren Gegner, alle Kampfeinheiten verloren hatten. In diesem Augenblick erreichten die Atombrand auslösenden Sprengköpfe den anvisierten Feindplaneten und explodierten auf dessen Oberfläche. Die Millionen Grad heißen, langsam abbrennenden Glutkugeln schmolzen sich durch die Kruste in den Kern. Auf den Kontinenten erschienen an mehreren Stellen kleine kirschrote Lichtpunkte; unter Druck austretendes Magma. Exakt berechnet erfolgte gleich darauf die Umwandlung der schweren Elemente. Unterirdisch tobten nunmehr ungebändigte chemische Reaktionen, überirdisch zuckten fast lichtschnelle, schwefelgelbe Blitze durch die Atmosphäre; ausgehend von den Glutherden. Binnen Sekundenbruchteilen verbanden sie die einzelnen Einschlagstellen. Noch immer bemerkte der Caraner an seiner Überwachungskonsole nichts von der fürchterlichen Vernichtungsaktion, die den eigenen Heimatplaneten betroffen hatte. Wie gebannt hingen seine Augen an dem Geschehen auf den Bildschirmen vor ihm. „Jaaaah! Erledigt! Endlich haben wir sie erledigt!“ Triumphierend gellte seine Stimme durch die Zentrale. Er hielt die rechte Faust geballt und schüttelte sie in Richtung des großen Holographen-Schirms an der Seitenwand, der den Vernichtungsangriff dokumentierte. „SELTOS explodiert. Wir haben gesiegt!“ Orangerotes Flimmern brandete über die Feindwelt. Zuerst tauchte es an den kontinentalen Flammpunkten auf. Es pflanzte sich mittels die Blitze fort und umfing rasend schnell den gesamten Planeten. Innerhalb kürzester Zeit, nur wenige Sekunden dauerte der Vorgang, strahlte alles in einem unwirklich erscheinenden Licht. Eine grelle Flamme zuckte übergangslos hoch und unmittelbar darauf erfolgte eine gigantische Detonation in sämtlichen Farben des Spektrums. Glutschwaden wogten aus dem Innern des zerberstenden Planeten und jagten unterschiedlich große Trümmerstücke durch den Raum. Einige von ihnen zerfetzten die letzten Rettungsboote der Seltosianer. Im Hintergrund glühten die Gaswolken der explodierten Raumschiffe beider Völker. Die Übertragungskameras erloschen. Auf den Überwachungsschirmen flimmerte bloß noch das grauweiße Rauschen der Raumstrahlung. Mit hochrotem Gesicht drehte der Schmächtige seinen Sessel herum und blickte zum Kommandantenpult hinüber. Dieser stand schräg vor dem riesigen Wandbildschirm, der die unmittelbare Umgebung CARANs mit dem Planeten im Mittelpunkt darstellte. Überall auf der Oberfläche waren jetzt Feuerkugeln und dickegrauschwarz wogende Wolkenpilze zu erkennen. Die eben noch freudig strahlenden Gesichtszüge verwandelten sich in eine Grimasse puren Entsetzens. Unwillkürlich verkrallten sich die Hände des Mannes in den Armlehnen. Es riss ihn von der Sitzfläche; die Augen weit offen.„Nein“, stöhnte er und sank erschüttert zurück. „Nicht das! Großer Allgeist, das ist doch nicht möglich!“ Wie ein Ertrinkender schnappte er nach Luft. „Kommandant, sagen Sie, dass das nicht wahr ist!“ Schrill und verzweifelt klang es. Erst jetzt kam Vorg Tabor wieder zu sich. Beinahe reglos hatte er auf seine Schirme gestarrt und die verstümmelten Funksprüche, genauso wie die Umgebung der Lenkzentrale, lediglich im Unterbewusstsein wahrgenommen. Doch nun herrschte Totenstille im Äther. Nur noch atmosphärisches Knacken dranggelegentlich aus den Lautsprechern. In der Zentrale war es still geworden. Jeder hielt den Atem an und nahm voll Entsetzen das schreckliche Geschehen auf, das der Panorama-Holograph überdeutlich darstellte.„Aus und vorbei“, hämmerte es in seinem Gehirn. „Endgültig vorbei! Sie haben uns ebenso vernichtet, wie wir sie. Verdammte Brut!“Tief im Innern empfand er einen wütenden, zerreißenden Schmerz. Tränen stiegen ihm in die Augen und machten ihn einen Moment lang blind. Heftig wischte er sich über das samtbraune Gesicht. Mehrmals holte er tief Luft und unterdrückte gewaltsam den Gefühlssturm. Endlich hatte er sich wieder unter Kontrolle und richtete das Augenmerk erneut auf die Bildschirme des Kontrollplatzes. Die Videokameras der Überwachungssatelliten CARANs boten das Grauen in allen Einzelheiten auf dem Drei-D-Frontbildschirm dar. Von den Explosionen ausgelöste Feuerstürme tobten über die Kontinente und Ozeane. Schmutzig braune Wolken, gemischt mit feurigen Turbulenzen, wirbelten durch sämtliche Regionen und hinterließen brennende Städte und chaotische Trümmerlandschaften. Ab und zu blitzten dazwischen grelle Glutkugeln auf. Gewaltige Atompilze strebten überall dem Himmel entgegen. Eins der Hologramme zeigte die Oberfläche des ersten Mondes. Auch dort kochten glühende Einschlagkrater. Die Weitbereich-Scanner ermittelten enorme Strahlenwerte. Schrill pfiffen die akustischen Warner. Dazuflackerten die Anzeigen in grellem Rot. Der gesamte Bereich, innerer Mond und Heimatplanet, strahlte gleich einer radioaktiven Hölle. Der letzte Überraschungsschlag des Feindes hatte ganze Arbeit geleistet. Mit brennenden Augen starrte Tabor auf das Chaos und registrierte nebenbei die Datendisplays. „Dort unten lebt niemand mehr“, schoss es ihm durch den Kopf. „Sie sind tot: meine Familie, die Freunde. Alle sind tot, innerhalb von Sekunden gestorben!“Trauer und Leid, fürchterliche Wut und zerreißender Schmerz tobten in ihm. Weiterhin erfüllte ihn das erdrückende Gefühl der Verantwortung für die hier noch lebenden Menschen, gemischt mit den Selbstvorwürfen versagt zu haben. Alles stürmte innerhalb einer Sekunde auf ihn ein und nahm ihm die Luft. Er spürte einen dicken Kloß im Hals und glaubte zu ersticken. Mehr konnte kaum jemand ertragen. Es war zu viel! Irgendwo in ihm zerbrach etwas. Mit einem Mal war alles vorbei. Das Gefühl zu ersticken und die Trauer. Nur der bittere Geschmack im Mund blieb und die taube Leere im Innern. Aus dem einstmals freundlichen und gefühlsbetonten Sektorenkommandanten wurde ein eiskalter, gnadenloser Mann. Urplötzlich wich die atemlose Stille einem tumultartigen Geräuschorkan. Geschriene Wortfetzen und heftiges Schluchzen hämmerten auf seine Ohren. Irgendjemand jammerte laut vor sich hin. Ruckartig fuhr er den Sessel herum und sprang auf. Mit einem Blick erfasste er die Situation. Unbewusst straffte er seine hochgewachsene, athletische Gestalt und er strich sich über den Brustteil des schmucklosen, blassblauen Overalls. „Ruhe, Kombattanten!“, peitschte seine volltönende Stimme durch die Zentrale. „Es ist vorbei. Nehmt euch zusammen!“ Niemand beachtete ihn. Alle Anwesenden waren mit ihren Problemen und Nöten beschäftigt. Wie eine Stahlfeder spannte sich sein Körper und er stemmte die Fäuste in die Hüften. Dabei spreizte er etwas die Beine. Unter buschigen, schwarzen Brauen lohten die dunklen Augen. Das gut geschnittene, energische Gesicht bekam einen erbarmungslosen Zug. „Ruhe!“, brüllte er erneut. Wieder beachtete ihn niemand.Seine rechte Hand tastete zur Hüfte. Er zog den schweren Blaster, den jeder Offizier tragen musste, aus dem offenen Halfter und richtete die Mündung zur hohen, gewölbten Decke. Fauchend löste sich der orangerote Energiestrahl und prallte funkensprühend gegen das Metall. Geisterhaft flackerte das reflektierte Licht über die Konsolen. Augenblicklich herrschte erschrockene Stille. Nur leises Schluchzen war hier und da zu vernehmen. Alle Augen richteten sich weit aufgerissen auf den Kommandanten. Die Strahlenpistole noch in der erhobenen Hand gab er seine Anweisungen: „Zuhören, Kombattanten! – Unser Gegner hat mit gleicher Münze zurückgezahlt. Genauso wie wir ihn vernichtet haben, wurde unser Heimatplanet eliminiert. Somit stehen wir ganz allein da. Unser Auftrag ist es, das Überleben unserer Art zusichern. Jeder von euch kennt seine Aufgabe und wird sie weiter durchführen, verstanden?“ „Wozu das alles?“, schluchzte eine weibliche Stimme. „Alle sind tot und wir haben auch keine Chance.“„Der Allgeist hat uns gestraft“, flüsterte jemand tonlos im Hintergrund. „Wir sind verloren.“ Tabors Lippen wurden zu einem Strich. Die Kiefermuskeln mahlten. Mit einer heftigen Bewegung nahm er die Waffe herunter und stopfte sie ins Halfter. „Nein, wir sind nicht verloren. Noch leben wir, also gibt es Hoffnung.


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