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Leseprobe:
die letzte Karte von Andreashall (Sarina M. Lesinski)
Rätselhafte Begegnung
Verdammt, fluchte Till leise vor sich hin, irgendwo
muss er doch sein. Bestimmt hat er die geheime Tür gefunden, die
bis in die Küche führt. Nur schade, dass ich nicht weiß,
wo diese Küche ist, sonst könnte ich dort nachsehen. Laut
fügte er hinzu: Das ist nicht lustig Raffi , wo steckst du,
zum Teufel noch mal?
Aber, aber, mit dem Leibhaftigen treibt man keine Scherze,
antwortete eine sanfte Stimme hinter ihm. Erschrocken fuhr Till herum.
In der weit geöffneten Tür, durch die er vor etwa zwei Minuten
in diesen Raum gestürmt war, stand eine lächelnde Gestalt, eine
alte Frau in einem hochgeschlossenen schwarzen Kleid mit weitem langem
Rock, der beim Gehen raschelte. Die Frau war groß und schlank. Obwohl
sie zum Gehen einen Stock mit silbernem Knauf benutzte, hielt sie sich
kerzengerade. Ihr langes weißes Haar hatte sie im Nacken zu einem
großen Knoten gebunden. Sie strahlte trotz ihres Alters Anmut und
Würde aus.
Wer sind Sie und wo kommen Sie so plötzlich her? Till
war verwirrt, hatte nicht Raffael beteuert, dass das Haus seit Ewigkeiten
leer stünde?
Die alte Dame schien seine Gedanken zu erraten. Um deinen Freund
brauchst du dir keine Sorgen zu machen. Er hat die Wahrheit gesagt und
es ist ihm auch nichts geschehen. Du wirst ihn nachher wiederfinden, Tillman,
doch zuerst muss ich noch mit dir reden.
Mit mir reden? Woher kennen Sie überhaupt meinen Namen und
wo ist Raffi hin. Eben war er noch da, dann hörte ich ihn plötzlich
schreien und es polterte fürchterlich. Und nun fehlt jede Spur von
ihm.
Das liegt daran, dass Raffael und ich nicht gleichzeitig in ein
und demselben Raum sein können, denn für ihn bin ich seit zwölf
Jahren tot, erläuterte die alte Dame, setzte sich in einen
der bequemen Ledersessel vor dem Kamin und bat Till mit einer einladenden
Handbewegung, das gleiche zu tun.
Die eben gehörten Worte durchzuckten Till wie ein Blitz. Er rief:
Sie müssen Tanna sein, Raffi s Großtante, die als Kind
in diesem Haus gelebt hat!
Ich befürchtete schon, du würdest es nie herausfinden,
lachte Tanna und dieses Lachen verjüngte sie. Erst jetzt bemerkte
Till das stille Leuchten, das diese Frau wie eine zarte Aura umgab. Sie
hatte große hellblaue Augen, mit denen sie Till aufmerksam betrachtete.
Was Tanna sah, gefiel ihr. Dieser junge Mann war genau der richtige Freund
für ihren Großneffen Raffael. Wenn es überhaupt Jemandem
gelingen konnte, das alte Rätsel zu lösen und den Bann zu brechen,
dann diesen beiden jungen Männern. Sie würde schützend
ihre Hände über sie halten, doch ihre Kräfte waren nicht
mehr so stark wie früher. Die Last so vieler Jahre machte sich allmählich
bemerkbar.
Was läuft hier eigentlich? Raffi hat mir erzählt, dass
er auf ihrer Beerdigung war. Offenbar leben Sie aber noch und erfreuen
sich guter Gesundheit. Vor ihrem Neffen verstecken Sie sich, scheinen
aber über uns beide ganz gut informiert zu sein. Als wir uns hierher
auf den Weg machten, nahmen wir an, dass Andreashall inzwischen eine Ruine
sei. Statt dessen fanden wir ein völlig intaktes Herrenhaus vor mit
Gardinen an den Fenstern. Eigentlich müsste hier überall eine
Zentimeter dicke Staubschicht liegen, aber alles sieht sauber und ordentlich
aus, wenn auch ein bisschen unbenutzt. Von Raffi weiß ich, dass
dieses Haus einige Geheimnisse hat, aber ich mag es nicht, wenn jemand
Katz und Maus mit mir spielt. Würden Sie also bitte so freundlich
sein und mir erklären, welches Spiel Sie gerade mit uns spielen.
Die letzten Worte klangen schroffer, als Till es beabsichtigt hatte. Er
wollte Tanna nicht verletzen, diese Frau strahlte soviel Güte und
Warmherzigkeit aus. Doch das änderte nichts daran, dass er sich irgendwie
verschaukelt fühlte. Außerdem wollte er endlich wissen, was
mit Raffael geschehen war. Der konnte sich doch nicht in Luft aufgelöst
haben.
Du bist nicht der Erste, den dieses Haus verwirrt. Als Raffael alt
genug war, habe ich ihm von Andreashall erzählt, immer wieder. Das
fiel mir auch gar nicht schwer, denn mein Neffe war ein sehr neugieriges
und abenteuerlustiges Kind. Er wollte immer und immer wieder die gleichen
Geschichten hören. Dadurch prägten sie sich schließlich
fest in seinem Kopf ein und ich wusste, eines Tages würde er hierher
kommen und sich dank dieses Wissens in unserem Haus zurechtfinden.
In unserem Haus? Till runzelte die Stirn. Das wurde ja immer
seltsamer. Wen meinte Tanna mit uns, sich und Raffi ?
Es stimmt, dass meine Mutter mit mir von hier fortging, nachdem
mein Vater im Dunklen See ertrunken war, doch das Haus blieb weiterhin
im Familienbesitz und fiel nach Mutters Tod an mich. Es gehört mir
immer noch, und da ich keine Kinder habe, möchte ich es an Raffael
weitergeben. Doch bevor er sein Erbe antreten kann, muss er noch ein paar
Dinge erledigen. Aber dazu komme ich später. Jetzt muss ich dich
leider verlassen. Raffael findest du hinter dem Haus am Dunklen See. Erzähle
ihm besser nichts von unserer Begegnung.
Er würde dir sowieso nicht glauben.
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