Leseprobe:
Der Sonnenbaum (Frank Koglin)
Kapitel Eins
Auf den ersten Blick schienen sich hinter der Fassade des unauffälligen
Backsteingebäudes in der Burlington Street im Londoner Norden keine
bemerkenswerten Reichtümer zu verbergen. Doch die regelmäßigen
Besucher der Gaspary-Bibliothek wussten um die literarischen Schätze,
die es dort zu entdecken gab. Follow the wisdom of the written word
- diese Worte luden zum Betreten der kleinen Bücherei ein. Peter
Grey folgte der freundlichen Aufforderung beinahe jeden Tag. Er war einer
der sechs Angestellten, die ihr Geld mit literarischem Wissen verdienten.
Für ihn stellte diese Beschäftigung einen Traumjob dar - er
liebte Bücher über alles. Eigentlich hatte der inzwischen Dreißigjährige
Literatur studieren wollen. Doch nachdem er ein paar Wochen als Aushilfe
in der Gaspary-Bibliothek verbracht hatte, war ihm, da er sich als zuverlässige
Kraft erwiesen hatte, von Charles Nought, dem Leiter der Bücherei,
eine feste Anstellung angeboten worden. Für Grey, der aus einfachen
Verhältnissen stammte, bedeutete dies eine gewisse finanzielle Sicherheit.
Neben seinem nicht sehr stark ausgeprägten Ehrgeiz war dies letztendlich
der Hauptgrund, warum er der Bibliothek den Vorzug vor der Universität
gegeben hatte. Hinzugekommen war, dass er sich bei Charles Nought und
seinen Kollegen von Anfang an ausgesprochen wohl gefühlt hatte.
Genauso war es auch John Reeve ergangen, der zwei Jahre nach Grey in der
Bücherei zu arbeiten begonnen hatte. Im Laufe der Zeit waren aus
den beiden Angestellten Freunde geworden, die stundenlange Diskussionen
über ein einziges literarisches Werk führen konnten - ohne einen
Konsens zu finden, aber auch ohne im Streit auseinander zugehen.
Reeve stand an ein Regal gelehnt und beobachtete den zwei Jahre älteren
Grey, der von einer Leiter aus Bücher in die höheren Etagen
einsortierte. Es war Freitagnachmittag, und außer den beiden Männern
hatten sich bereits alle übrigen Angestellten in das Wochenende verabschiedet.
Für Grey stand sogar ein sehr ausgedehntes Wochenende auf dem Programm.
Er hatte sich die komplette kommende Woche Urlaub genommen. Ausspannen,
ausruhen, zusammen mit seiner Frau Elaine irgendwohin ein paar Tage an
das Meer fahren.
Kann sich Elaine wirklich mal von ihrer Arbeit losreißen?
fragte Reeve ungläubig.
Grey nahm seine Brille mit den kleinen, runden Gläsern ab und wischte
sich über die Augen. Er grinste. Wahrscheinlich haben ihre
Chefs sie dazu gezwungen. Paul Harrison und John McCartney leiteten
ein angesehenes Anwaltsbüro.
Reeve lachte. Ich hoffe, ich bekomme nicht eines Tages das gleiche
Problem. Er fuhr sich mit der Hand durch sein kurzes, schwarzes
Haar. Julie fängt übernächste Woche nämlich
wieder an zu arbeiten.
Wirklich? Grey war überrascht. Du hast ja noch
gar nicht davon erzählt. Ging das jetzt so plötzlich?
Geplant hatten wir es schon länger, entgegnete Reeve,
aber wir wollten es erst einmal für uns behalten, bis Julie
tatsächlich eine Stelle gefunden hatte.
Finde ich gut. Grey stieg vorsichtig die Leiter herunter.
Wie alt ist eure Tochter jetzt? Drei?
Jenny wird nächsten Monat vier, erwiderte Reeve. Sie
kommt dann in die Wellington School. Das ist so eine Mischung aus Kindergarten
und Vorschule.
Und was macht Julie jetzt? erkundigte sich Grey, der mit seinen
einen Meter und achtzig gut zehn Zentimeter größer war als
sein Freund. Wieder Industriekauffrau wie früher?
Reeve deutete ein Kopfschütteln an. Sie fängt bei Weller
& Byrne, dem großen Handelsunternehmen, an. In erster Linie
wird sie als Dolmetscherin gebraucht. Sie war ja schon immer so ein Sprachen-Genie.
Das klingt nicht schlecht, stellte Grey fest und krempelte
sich die Ärmel seines Jeanshemdes hoch. Und die Bezahlung ist
es mit Sicherheit auch nicht.
Nach der Probezeit verdient sie mehr als ich. Reeve sagte
das in einem Tonfall, der vermuten ließ, dass es ihm nicht ganz
leicht fiel, sich damit abzufinden.
Wenn unsere Frauen so weitermachen, frohlockte Grey mit einem
Schmunzeln, können wir beide uns bald zur Ruhe setzen.
Die nicht ernst gemeinte Zukunftsprognose seines Freundes brachte auch
Reeve wieder zum Lächeln. Ich glaube, damit muss ich noch ein
bisschen warten. Er holte tief Luft. Zumal wir an einer schwierigen
Entscheidung herumdoktern.
Grey, der ein paar Bücher vom Boden aufgehoben hatte, hielt inne.
Was ist los? Ein neues Auto fällig? - Um ein zweites Kind kann
es ja nicht gehen, wenn Julie wieder anfängt zu arbeiten.
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