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Leseprobe:
Einsichten und Aussichten der Seele (Marianne Voß)
S. A.
Dialektik der Genussfähigkeit
Genussfähigkeit ist der Wechsel zwischen Anspannung und Entspannung.
So wird es deklariert. Dialektik, meine Freundin. Dieser Satz birgt Dialektik.
Die Lust am und zum Widerspruch. Wie soll das laufen? Anspannung,
Entspannung, hin und her, rauf und runter, links und rechts, rund und
eckig, grau und bunt. Was ist spannend? Jemensch sagt A, jemensch sagt
B. Himmel, wer hat nun Recht? Vergiss das Recht, meine Freundin, all diese
juristischen Kategorien, wie Eigentum und Rente, Grenzüberschreitung
und Vollzugsanstalt.
Anspannung meint Kontraktion, das Zusammenziehen der Muskeln, die Bewegung
des Körpers und der Zustand kurz davor. Die Haltung der Aufmerksamkeit,
der Achtsamkeit, der Berechnung Mathematik steckt darin, meine
Freundin, Gesetze und Prinzipien, Formeln, Formfindung, Ästhetik
und Methode, all das subsummiert sich unter dem Begriff der Anspannung.
Entspannung, das löst die Bewegung, beruhigt die Nerven und die Muskeln
Schlafen, Träumen, Spazieren, der Rausch. Wenn Genussfähigkeit
der Wechsel zwischen Anspannung und Entspannung meint, dann lässt
sich Rausch nicht genießen, ebenso wenig wie Schlaf oder das Ergebnis
von Autogenem Training. All die aufgezählten Begriffe bilden nur
den einen Pol, aus dem Genussfähigkeit entsteht. So lassen sich Bewegung
und Formfindung und mathematische Berechnung für sich genommen nicht
genießen, sondern ihr Genuss, und die Fähigkeit zum Genuss,
resultiert aus der Endlichkeit derselben, aus Anfang und Ende all dieser
Arbeiten und Zustände.
Die Genussfähigkeit ist ein Prozess, sie beginnt und endet und wird
stets in neuen Widersprüchen geboren. Sie ist das Kind von Problemen,
den Vorlagen menschlicher Entwicklung, die auf Beziehungsebene Konflikt
genannt wird. Wer streitet, ist somit genussfähig, meine Freundin,
und wenn Du mir an dieser Stelle widersprichst, dann beglückwünsche
ich Dich zu Deiner Genussfähigkeit. Solange, bis wir uns einig sind.
Dann, meine Freundin, entsteht etwas Neues, die Langeweile. Langeweile
ist die Tochter der Genussfähigkeit und sie entsteht aus der Einseitigkeit
von Anspannung und Entspannung. Langeweile erzeugt Stillstand und darum
ist sie im Zeitalter der Vernetzung, der totalen Beschleunigung, so notwendig.
Sie bildet den unerwachsenen Gegenpol zur Genussfähigkeit und ohne
diesen Wechsel wären wir weder angespannt noch entspannt, sondern
schlicht im Modus seelischer Verlorenheit.
Langeweile konstituiert den juvenilen Gegensatz und zugleich das Statement
der nächsten Generation. Die Langeweile wächst und gewinnt an
Reife durch den ihr entgegenströmenden Fluss von Aktivitäten
der Unzufriedenheit und zeitlicher Raserei. An und mit diesem Strom reift
und erntet das langweilige Dasein Geduld. Diese Form ist neu und wird
vorausblickend angezweifelt.
Geduld befruchtet den Zweifel und der Zweifel gebiert Hoffnung. Und
irgendwo und irgendwie und irgendwann findet die Genussfähigkeit
ihren Platz im freien Spiel von Glaube, Liebe und Hoffnung. Denn Glaube,
Liebe und Hoffnung verändern sich und werden problematisch,
fruchtbar und zerstörerisch im Sinne menschlicher Entwicklung.
K. F. Genuss
Was genieße ich? Ich bin ein absoluter Kinofan. Genieße Bücher,
bin eine Leseratte.
Gerade lese ich in russischer Sprache Werke von Fjodor Dostojewsky.
Das ist, ich wiederhole mich, ein Genuss, solche Literatur zu lesen.
Es bringt mich meiner verstorbenen russischen Mutter näher. Sie verstarb
2006 nach langer schwerer Krankheit, was ein gewaltiger Schock für
mich war. Dieses Trauma habe ich wohl bis heute noch nicht verarbeitet.
Genieße es, im Herbst Pilze zu sammeln. Das ist wie Meditation.
Genieße Stille.
Genieße Vollmilchschokolade.
Freue mich über eine Ballettaufführung im Theater oder im Fernsehen.
Freue mich, auf der Galopprennbahn Hoppegarten die rassigen englischen
Vollblüter zu betrachten.
Freue mich, wenn ich einen Arbeitstag bei Pinke Panke gemeistert habe,
wenn der innere Schweinehund überwunden wurde.
Genieße Musik von Aha, von Franz Schubert, Beethoven oder Falko.
Genieße das Lob, die Anerkennung von Kollegen des Kinderbauernhofs.
Genieße seltene Treffen mit meinem Vater und der Stiefmutter.
Genieße die Anwesenheit meines Wellensittichs.
Freue mich manches Mal, nicht einsam zu sein. Manchmal liebe ich
die Einsamkeit, manchmal bedrückt sie mich. Das ist ein Widerspruch
ich bin widersprüchlich.
Ich mache mir nur oft das Leben sehr schwer, würde mich als kompliziert
bezeichnen.
Genuss ist, wenn man nicht muss, sondern freiwillig Dinge aus Begeisterung
tut.
Manchmal genieße ich es, zu schlafen und zu träumen.
Eine Zigarette zu rauchen, das ist wiederum schädlicher Genuss.
Aber, was soll´s!
Man hat nur ein Leben, man sollte es sinnvoll gestalten, es nicht
vergeuden.
Am Ende des Lebens sollte man mit Zufriedenheit auf das Gelebte zurückschauen
können.
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