Leseprobe:
Wahrheit und Dichtung - Rund um die Gleichen (Axel Theune)

1.

Gewitter über Reinhausen

Es ist spät geworden.
Wir sitzen an diesem kalten Novemberabend immer noch am knisternden Kaminfeuer beisammen. Draußen braut sich ein Gewitter zusammen, und Regen und Sturm drücken gegen die Fensterscheiben.
Das Holz prasselt im Kamin, und die Glut des Feuers lässt den Wein in unseren Gläsern funkeln. Die alte Ritterrüstung in der Ecke des Raumes blinkt geheimnisvoll im Kerzenschein.
Das Grollen des Donners und der Anblick der Flammen, die wie kleine Blitze nach oben schlagen, regen meine Fantasie an, und mir fällt zum Schluss noch eine Rittergeschichte ein. Denn wir, die Reinhäuser Ritterrunde, erzählen uns am liebsten Geschichten aus der Ritterzeit.
„Wisst ihr, was sich 1387 bei Rosdorf zugetragen hat?“, beginne ich meine Erzählung, und alle sehen mich erwartungsvoll an.
„Wieder war es die Ritterschar von Otto dem Quaden, dem gottlosen Herzog und Bösewicht unter der Ritterschaft, die Unruhe im Göttinger Land gestiftet hatte. Mit den Göttingern und gegen den Herzog kämpften auch Heise von Kerstlingerode und als Hauptmann Ernst der Neunte von Uslar. Ihr kennt ihn ja schon aus dem Rittergedicht ‚Der Kampf um Neuengleichen’.“
Draußen wird es immer unheimlicher, der Sturm wird stärker und das Donnergrollen lauter. Ich erzähle weiter:
„Das Gewitter kommt von Westen, von dort her, wo sich die Geschichte zugetragen hat. Im besagten Jahr knallten die Schwerter und Lanzen auf den Streitäckern von Rosdorf zwischen Rittern von Otto dem Quaden und dem Göttinger Heer hart aufeinander.
Heise von Kerstlingerode kämpfte an der Seite Ernst IX. von Uslar und wurde von einem unheimlich aussehenden Ritter mit schwarzer Gesichtsmaske durch einen Schwerthieb so stark getroffen, dass er vom Pferd stürzte.
Schon während des Kampfes war der Himmel voller dunkler Wolken und ein Gewitter zog auf. Ernst von Uslar sprang vom Pferd, um sich um Heise zu kümmern. Dieser stöhnte unter Schmerzen, als aus seinem Munde die Worte kamen: ‚Wenn es einen Gott gibt, dann sollen Blitze die bösen Ritter des Herzogs treffen’.
Er hatte seine Worte kaum ausgesprochen, da blitzte und donnerte es gewaltig am Himmel, und einige Ritter von Ottos Scharen wurden tatsächlich vom Blitzschlag getroffen und getötet. Ihre eisernen Rüstungen hatten den Blitz angezogen.

Heise gab im Sterben noch ein letztes Zeichen mit der Hand zum Himmel und flüsterte: ‚Ich werde wiederkommen, und jeder Blitz, der von mir geschickt wird, soll auf Ottos Ritterschar schlagen und einen nach dem anderen töten.’ Das waren seine letzten Worte.
Der Rest der ‚Quadenritter’ floh in Richtung Northeim, denn die Kämpfe waren vorüber, und die Göttinger hatten gesiegt.“
Der Sturm draußen vor der Tür wird immer drohender, und die Flammen im Kamin wirken gespenstisch. Es heult, kracht und blitzt über den Gleichen bis ins Leinetal, und irgendwo schlägt ein Blitz ein.
„Hört ihr?“, sage ich leise, „oben in den Wolken ist Heise wieder unterwegs auf seinem Pferd und jagt Ottos Rittern Furcht ein. Eben hat er mit seinem Blitzschwert einen von den Quadenrittern getroffen.“
Ich muss unwillkürlich lächeln, als ich sehe, wie meine Zuhörer leicht verschreckt vor dem Kamin sitzen und selbst beim Knistern und Knacken des Holzes zusammenzucken. Die Anspannung wird gelöst, als alle zum Weinglas greifen, und einer aus unserer Runde sagt: „Nur gut, dass wir nicht in der Ritterzeit gelebt haben!

2.

Die Gans aus dem Gartetal

Einst lebte eine weiße Gans
im Gartetal beim Bauern Hans.
Sie war sehr aufmerksam und klug,
drum sie den Namen ‚Wachhund’ trug.

Nahten sich Fremde an Tor oder Gatter,
vertrieb sie diese mit Geschnatter,
sie machte Dieben den Garaus,
bewachte eifrig Hof und Haus.

Sie vertrug sich in guter Harmonie
mit dem gesamten Federvieh,
fraß Körner und Gras, von allem das Beste,
ahnte nichts vom Gänsebraten zum Weihnachtsfeste.

Die Kinder des Bauern liebten sie sehr
und rannten lachend hinter ihr her,
wenn sie aufgeregt vom Bahndamm lief,
weil in der Ferne die Kleinbahn pfiff.

Denn die Gartetalbahn, die täglich fuhr,
kam auch am Hof vorbei auf ihrer Tour.
Oft saßen Studenten im Zug, die spaßig drohten:
‚Blumenpflücken während der Fahrt verboten!’

Als dann im Mai die Bäume blühten,
mussten die Kinder des Bauern die Gänse hüten,
und weil das Weideland sehr knapp,
fraßen die Gänse am Bahndamm das Grünzeug ab.

Die Kinder spielten derweil auf den Gleisen,
sie träumten vom Bahnfahren und Verreisen,
beim Spielen hatten sie Zeit und Gänse vergessen,
und die Gänseschar wollte sowieso nur fressen.

Da näherte sich langsam die Gartetalbahn,
kam beängstigend nah an die Kinder heran,
als plötzlich Gans ‚Wachhund’ die Gefahr erkannte
und der Bahn mit Geschrei entgegenrannte.

Sie machte Lärm und schlug mit den Flügeln,
als wollte sie Bahn und Lokführer zügeln,
und Willi, der Heizer mit verrußtem Gesicht,
schrie dem Lokführer zu: ‚Überfahr die Kinder nicht!’


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