Leseprobe:
Volltreffer und andere Belanglosigkeiten (Richard Erren)

Ein gutes Orakel (Titelerzählung)


Das Leben ist schön! Jetzt wusste er es wieder. Lange Zeit hatte er gezweifelt. Es war ja auch zum Verzweifeln gewesen! Zuerst beruflich kaltgestellt, dann die Kündigung. In der gegenwärtigen Wirtschaftskrise fast keine Chance auf einen gleichwertigen Job. Zu allem Unglück verließ ihn auch noch seine Frau und er blieb allein zurück. Die Kinder waren ja schon länger aus dem Haus. Bedingt durch die berufliche Belastung hatte er kaum Zeit für sie gehabt. Sie waren typische ‚Mama-Kinder‘. Mit ihr telefonierten sie. Sie besuchten sie auch gelegentlich. Er jedoch war allein. Er blieb allein. Die Freunde, mit denen sie sich früher gelegentlich getroffen hatten, trafen sich weiter. Mit ihr. Er war allein. Er trank mehr als früher. Fast wäre er abgerutscht. Da hatte er mit dem letzten Rest seines sonst so gut funktionierenden Verstandes beschlossen: „Ich nehme mein Schicksal jetzt selbst in die Hand. Bevor ich in der Gosse lande, mache ich entweder endgültig Schluss, oder aber ich finde einen Weg hier heraus, einen Weg nach oben.“ Und geradezu schicksalhaft hatte er in diesem Augenblick eine Anzeige auf dem Zeitungspapier gesehen, in das seine Schnapsflasche eingeschlagen war:

Nehmen Sie ihr Schicksal in die Hand
Donnatella Deidre
Sagt Ihnen Ihre Zukunft voraus

Diese Anzeige traf ihn wie ein Hammerschlag!
Sie erschien ihm wie ein Wink des Schicksals, dem er nur zu folgen brauchte. Er hatte ein paar Tage auf den Termin warten müssen. Während dieser Tage hatte er angefangen, aus seiner ziemlich verkorksten Situation wieder in ein normales Leben zurückzukehren. Kein Alkohol mehr. Das Haus aufräumen. Die Wäsche waschen. Regelmäßig Körperpflege. Den Biorhythmus richtig einstellen. Nachts schlafen. Tagsüber aktiv sein.

Er war schon fast wieder der Alte, als er endlich in Donnatella Deidre’s Wartezimmer saß und es kaum noch erwarten konnte, ihr zu begegnen. Was würde sie ihm sagen? Die Spannung ließ ihn innerlich fast zerplatzen. Es hielt ihn nicht auf seinem Stuhl. Unruhig ging er in dem kleinen Zimmer hin und her. Endlich war es soweit. Er betrat ihr Sprechzimmer. Dämmerlicht. Viele Vorhänge an den Wänden. Da, am Fenster ein Tisch, dessen Konturen man durch die dicken Vorhänge gerade noch erkennen konnte. Auf dem Tisch eine große Kristallkugel. An dem Tisch eine Gestalt. Das musste Donnatella Deidre sein. Er trat näher. Von der völlig verschleierten Gestalt waren nur die Augen zu sehen. Tiefgründige Augen. Weise Augen. Ohne ein Wort bedeutete sie ihm sich zu setzen. Er war nervös. Er schwitzte sogar. Sie sprach immer noch nicht, sondern bedeutete ihm wortlos, ihr seine Hand zu geben. Sie betrachtete lange seine Handinnenfläche. Sie fuhr mit ihren Fingerspitzen die ausgeprägten Linien seiner Hand entlang. Angenehm kühle Fingerspitzen. Nach einer Zeit, die ihm wie eine Ewigkeit vorkam, ließ sie seine Hand los und legte beide Hände um die Kristallkugel. Ihre Augen schienen durch ihn hindurchzusehen, in die Unendlichkeit. Dann sagte sie, mit einer unglaublich angenehm klingenden, dunklen Stimme: „Sie haben eine schwere Zeit durchgemacht. Sie steckten in einem tiefen, seelischen Morast. Aber Sie sind dort herausgekommen. Sie sind jetzt auf dem Weg zu Ihrer Bestimmung. Und ich sehe, sie werden einen Volltreffer landen.“ Mit jedem Wort, das sie sagte, fiel ein Stück seiner Anspannung von ihm ab. Bei ihren letzten Worten durchflutete ihn ein schon lange nicht mehr gekanntes Glücksgefühl. Als er Donnatella Deidre verließ, schwebte er wie auf Wolken. Zuhause war eine Nachricht auf seinem Anrufbeantworter. Ein Headhunter! Es ging um einen Posten beim Marktführer für Süßwaren. Ein Traumjob! Ob er Interesse hätte. Und ob er hatte! Er wählte sofort die Nummer des Headhunters.

Seitdem waren einige Wochen vergangen. Mehrere Gespräche waren geführt worden. Und er hatte seinen Volltreffer gelandet. Er hatte den Job bekommen!

Heute war sein erster Arbeitstag. Er fuhr jetzt in seinem neuen, supertollen Dienstwagen, einen BMW 525i, der gestern geliefert worden war, zu seiner neuen Arbeitsstelle. Ein Supergefühl solch einen Wagen zu fahren. Man merkte die jeweilige Geschwindigkeit überhaupt nicht. Schnelles Fahren wurde zum sanften Gleiten.

Wieso steht da jetzt ein Tanklastzug quer auf der Straße? Er sah noch, wie die Motorhaube sich nach oben bog.

Volltreffer!!!


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