Leseprobe:
Traumlinde (Sarina M. Lesinski)

Ab Seite 6

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„Hast du Lust, etwas zu unternehmen?“, erkundigte sich Lara.
„Und was? In diesem Dorf ist doch nichts los.“ Jonas klang frustriert.
„Das würde ich nicht sagen,“ widersprach Lara. „Sicher wir haben keinen Supermarkt, keine Einkaufsstraßen und dergleichen. Aber auch unser Dorf hat schöne Ecken. Du scheinst ja alte Bäume sehr zu mögen. Was hältst du davon, wenn ich dir unseren ehemaligen Gerichtsplatz zeige mit der riesigen Linde?“
„Gerichtsplatz?“ Verwirrt schaute Jonas Lara an. Müsst ihr nicht zu Gerichtsverhandlungen ins Amtsgericht in der Kreisstadt?“
Lara lachte laut auf: „Na klar müssen wir das. Aber ich meine den Gerichtsplatz, auf dem im Mittelalter das Gericht abgehalten wurde, wenn der Graf zweimal im Jahr unser Dorf besuchte und nachschaute, ob die Bauern auch brav geblieben waren in der Zwischenzeit.
„Ach so. Das klingt spannend. Ist das weit von hier?“
„Nur auf der anderen Seite des Dorfes, aber da wir keine Straßenbahn haben, müssen wir zu Fuß gehen.“ Lara lachte.
Sie machten sich auf den Weg. Staunend sah Jonas, wie sicher sich Lara bewegte. Die engen Kopfsteinpflasterstraßen und die noch schmaleren ungepflasterten Gassen wiesen viele Unebenheiten auf, denen Lara geschickt auswich. Sie schien hier wirklich jeden einzelnen Stein zu kennen und wo sie sich unsicher war, blieb sie kurz stehen und tastete die Umgebung mit ihrem Blindenstock ab.
„Bist du schon blind auf die Welt gekommen?“, erkundigte sich Jonas leise.
Lara schüttelte den Kopf. „Ich bin vor drei Jahren auf einmal krank geworden. Meine Eltern dachten, es wäre eine Grippe und der Arzt war anfangs der gleichen Meinung. Aber es wurde immer schlimmer. Fast zwei Monate lag ich im Bett, und als es mir endlich wieder besser ging, konnte ich immer schlechter sehen. Eines Morgens wachte ich auf und alles blieb dunkel, obwohl ich die Augen geöffnet hatte.“
„Das ist eine schlimme Geschichte“, flüsterte Jonas und fügte etwas lauter hinzu, „es tut mir sehr leid, Laura.“
„Das muss es nicht, Jonas. Weißt du, ich habe einen großen Vorteil gegenüber den Menschen, die blind geboren worden sind. Ich weiß, wie unser Dorf aussieht, die Farben sind alle noch in meinem Kopf. Deshalb ist meine Welt auch heute noch bunt, wenn auch nur in meiner Fantasie.“
„Und wie kommst du in der Schule zurecht?“, erkundigte sich Jonas leise.
„Ich gehe seither auf die Blinden- und Gehörlosenschule in der Kreisstadt. Da lernen wir genau das Gleiche, wie alle anderen Kinder auch. Wenn die Ferien zu Ende sind, komme ich in die siebte Klasse.“
„Dann bist du ein Jahr älter als ich, denn ich komme in die sechste Klasse. Ehrlich gesagt, habe ich überhaupt keine Lust, wieder in die Schule zu gehen“, gestand Jonas.
„Warum denn nicht? Die sechste Klasse ist total spannend. Da lernst du viel über das Mittelalter, also auch über solche Dinge, wie unseren Gerichtsplatz hier im Dorf.“
„Ja, schon, aber es ist eine neue Schule, in die ich gehen werde und alle Klassenkameraden sind mir fremd, bis auf Hannes und Felix. Aber die sind schon hier im Dorf immer gemein zu mir und lassen mich nie mitspielen.“
„Sei nicht traurig“, tröstete Lara, „die beiden sind wirklich blöd. Und weil sie eine große Klappe haben und ziemlich stark sind, trauen sich die schwächeren Kinder nicht, sich ihnen zu widersetzen. Kümmere dich einfach nicht um die beiden. Du wirst in deiner neuen Klasse bestimmt auch viele nette Mitschüler finden.“
„Ja, vielleicht“, nickte Jonas, „aber nun lass uns nicht mehr von der Schule reden. Schließlich haben wir noch zwei Wochen Ferien vor uns.“
Während sie so erzählten, hatten die beiden die letzten Häuser des Dorfes hinter sich gelassen. Jetzt führte ihr Weg zwischen Obstgärten entlang und endete schließlich auf einer Wiese. Von dort aus konnte Jonas einen riesigen Laubbaum mit einem sehr dicken Stamm sehen, der auf einem flachen Hügel stand.
„Na, siehst du die Linde?“, fragte Lara. „Dort müssen wir hin. Auf dem flachen Hügel wurde das Gericht abgehalten.“
„Lara, was weißt du über diese Zeit, in der an diesem Ort Recht gesprochen wurde?“
„Weißt du, die Menschen denken ganz unterschiedlich über das Mittelalter. Für viele ist es eine dunkle, kalte und grausame Zeit, in der die Menschen jung starben, weil sie von vielen scheußlichen Krankheiten geplagt wurden, die noch niemand heilen konnte. Andere schwärmen vom prunkvollen Leben auf den Burgen, das aber bestimmt auch nicht so einfach war. Besonders dann nicht, wenn die Männer mal wieder in den Krieg gezogen waren und die Frauen die Burgen mit allem, was dazugehörte, allein verwalten mussten.“
„Und wie denkst du selbst über diese Zeit?“, bohrte Jonas weiter.
„In meiner Fantasie hat diese Zeit ihre ganz eigenen Farben, jedenfalls war sie bunt, wenn auch nicht einfach. Aber die Menschen, die damals lebten, kannten keine Heizungen, keine Duschen und keine Kühlschränke. Also haben sie diese Dinge auch nicht vermisst.“
Inzwischen waren sie bei der Linde angelangt. Staunend umrundete Jonas den gewaltigen Stamm und stellte fest, dass er an einer Seite aufgerissen war.
„Wow, da ist ja ein riesiger Spalt drin!“
„Ich weiß“, lächelte Lara, du kannst in den Stamm hinein kriechen. Er ist hohl. Es liegt ein flacher Stein darin. Wenn du dich darauf stellst, kannst du durch das große Astloch an der Südseite das Dorf sehen.“
Neugierig kroch Jonas in den Stamm. Seine Füße fanden den Stein, und als er sich darauf stellte, konnte Jonas tatsächlich durch das Astloch hinaus sehen, wie aus einem Fenster. Die Dächer des Dorfes flirrten in der Hitze und verschmolzen mit dem Grün der Bäume und dem Rot und Violett der hohen Stockrosen, die aus den Gärten herüber zu winken schienen.
„Es scheint dir in dem Baum zu gefallen“, drang nach einer Weile Laras Stimme an Jonas Ohr, „jedenfalls scheinst du keine Lust zu haben, wieder heraus zu kommen.“
„Entschuldige Lara“, bat Jonas, „ich bin plötzlich so schrecklich müde.“
„Das kommt von der Hitze. Bleib ruhig noch eine Weile hier, wenn du möchtest, aber ich muss jetzt nach Hause. Den Weg zurück ins Dorf kannst du nicht verfehlen. Wir sehen uns dann morgen wieder, wenn du willst“, schlug Lara vor.
„Ja, gern. Ich werde wieder unter den Weiden am Weiher auf dich warten. Also bis morgen“, hörte Jonas sich sagen und seine Stimme kam ihm mit einem Mal sehr fremd vor. Er sann noch eine Weile darüber nach, dann fielen ihm die Augen zu.

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