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Leseprobe:
Frühe Jahre - Schulzeitgeschichten (Werner Heinemann)
Ab Seite 10
Vom ersten Tag an war mir die Schule ein Gräuel. Der Zwang, auf
einem kleinen Holzstühlchen hinter einem niedrigen Schreibpult sitzend,
total uninteressante Aufführungen beiwohnen zu müssen, erschien
mir eine ungehörige und ungerechte Verletzung meines Persönlichkeitsrechts
auf freie Selbstbestimmung zu sein. Zu allem Unglück war ich gezwungen,
auf meinem Holzstühlchen neben einem Mädchen mit langen, rotbraunen
Zöpfen zu hocken. Einem Mädchen!
Es war ja nicht so, dass ich nichts lernen wollte. Es fiel mir nur schon
als Kleinkind schwer, mich dem Willen anderer bedingungslos unterzuordnen.
Ich wollte lernen und zwar ganz speziell Lesen. Vorerst wollte ich deshalb
das Lernen auf das Lesen konzentrieren, damit sich der Erfolg schneller
einstellte und nicht von vermeintlich Unwesentlichem belastet und abgelenkt
würde. Da stand ich allerdings, was ich damals nicht verstand, im
erheblichen Widerspruch zum vorherrschenden Lehrplan, der das so nicht
vorsah.
Obwohl ich sie nicht einmal berühren durfte, wollte ich insbesondere
das lesen können, was in den Büchern meines Bruders stand. Und
vor allem wollte ich wissen, was in diesem dicken Buch, das meine Großmutter
mit einer gehörigen Portion Pathos die Luther-Bibel nannte, geschrieben
stand.
Doch welch eine Enttäuschung! Die Buchstaben und das Schriftbild
der Luther-Bibel stimmten nicht mit denen von meiner Lehrerin überein.
Nein, so ging das nicht! Ich protestierte. Ich wollte richtige Buchstaben
lernen. Noch heute sehe ich ihre schönen, großen, braunen Augen
auf mich verständnislos herabblicken. ...
Ab Seite 49
...Wir kamen gerade richtig. Unser Lehrer rief seine Schäfchen herbei.
Seine Getreuen hatten alles Mögliche herbeigeschafft und auf den
Tischen ausgebreitet.
Vor einem Tisch mit Gräsern, Blättern, Blumen, Wurzeln, Zweigen
und anderen Pflanzenteilen, kam ich gegenüber von Ina zu stehen.
Sie sah mich nicht an, verfolgte aber scheinbar interessiert den lehrreichen
Erläuterungen über Elkes Käfer am Nachbartisch. Es blieb
unsicher, um welche Art von Käfer es sich überhaupt handelte.
Elke war froh, dass sie nun den armen Kerl dahin laufen lassen konnte,
wo er gedachte hinlaufen zu müssen. Sie pustete durch. Boa,
war das anstrengend.
Zum Glück brauchte ich mir nicht mehr viele schlaue Ausführungen
über die ausgelegten Naturgaben anzuhören, da sich unser Lehrer
entschloss, etwas zeitiger aufzubrechen. Er glaubte, ein spätsommerliches
Gewitter zu wittern. Der Geruch sei typisch für schwerste Unwetter.
Tatsächlich waren dichte Wolken am Himmel aufgezogen. Aber, um es
vorwegzunehmen, es sollte auch in den nächsten Tagen kein einziger
Tropfen vom Himmel fallen.
Auf einem schmalen Pfad, der sich an das kleine Rinnsal anlehnte, stiegen
wir hinab ins Tal. Unten angekommen war aus dem Rinnsal ein kleiner Bach
geworden. Kleine Rast. Matten legte mir die Hand auf die Schulter. Borgst
du mir eins?
Ich verstand nicht, was er meinte. Na, von den Parisern. Du wirst
ja nicht alle drei brauchen, oder? Ich verstand jetzt. Klar, sie
mussten doch noch in der Hosentasche sein.
Hier, ich hielt ihm das Heftchen hin.
Da sind drei drin. Einer reicht.
Ich war froh, dass ich Mattens Wunsch richtig mit Lembergers Geschenk
in Verbindung gebracht hatte. Ich zeigte mich großzügig. Kannst
sie alle haben.
Du bist ein echter Kumpel, lobte Matten aufrichtig.
Bevor die letzte Etappe in Angriff genommen wurde, wurde unser Lehrer
seinem Ruf gerecht, immer wieder für Überraschungen zu sorgen.
Da wir früher zurück wären, hätten wir die Zeit bis
zum Abendessen zur freien Verfügung. Aber nach dem Abendessen wollte
er mit uns Volkstänze einüben. Der Herbergsvater hätte
ihm bereits zum Vorspielen volkstümlicher Musik sein privates Tonbandgerät
geliehen.
Diese Aussicht über die Gestaltung des Abends kam bei vielen überhaupt
nicht gut an. Terry rutschte an einem alten, hohen Gedenkstein, an dem
er mit den Rücken lehnte, willen- und kraftlos herunter. Ich
fasse es nicht! Nein, ich fasse es nicht! Kein Stück. Ich bewege
mich kein Stück mehr.
Die Lehramtskandidatin hockte sich augenblicklich neben ihn und hieb ihm
ihre kleine Faust in die Rippen. Hey, so ein starker Kerl will doch
nicht schlappmachen. Terry rieb sich die Rippe und presste mit schmerzverzerrtem
Gesicht hervor: Kein Stück! Ole und Lemberger stellten
Terry keuchend wieder auf die Beine. Es ging weiter.
Hella behauptete, sich eine Blase gelaufen zu haben. Damit löste
sie Gespräche über Blasen an den Füssen, von den Möglichkeiten
der Entstehung, über die Schmerzen und Behandlungsmethoden, bis zur
Vorbeugung gegen den Wiederholungsfall aus. Zurück in der Herberge
hatten mehrere, darunter auch Matten, sich plötzlich Blasen gelaufen.
Herablassender konnte man sich nicht gebärden. Gleichgültig
nahm der Lehrer meine Strafarbeit in Empfang. Noch etwas?
Nein, nichts, gar nichts, dachte ich und ging.
Da sich herausgestellt hatte, dass die Herbergsmutter als kriegsgediente
Hilfskrankenschwester Marschblasen zu behandeln wusste, heilten die meisten
wunden Füße von ganz alleine ab. Hellas Blase war von der Herbergsmutter
als Lappalie bezeichnet und verarztet worden.
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