Leseprobe:
Sasaella Pimperlott und die Grüne Neune (Ulrike Leinemann)
Die Sturmglocken läuteten. Eisiger Wind
trug ihren Klang durch dichten Bambuswald. Stämme knarrten und ächzten
unter der Kraft des Sturms. Regen peitschte über das Land, dunkle Wolkenfetzen
trieben über den Himmel. Das Wasser des aufgebrachten Großen
Sees schlug hohe Wellen und ergoss sich über das Ufer. Die Fluten strömten
ungehindert durch das Tal. Wege und Pfade verschwanden. Der bleiche Mond
ging in Deckung. Er sah, dass er in dieser Nacht keine Chance hatte.
Ganz schwach vernahm man das panische Wiehern eines Pferdes.
Beine und Flanken des Tieres waren Dreck bespritzt. Sein Schweiß mischte
sich mit dem Regen. Die Hufe verloren immer wieder ihren Halt im sumpfigen
Untergrund; während es versuchte, einen Wagen durch den tiefen Schlamm
zu ziehen. Blitze zuckten durch die Dunkelheit. Ein tiefes Grollen folgte.
Das Pferd erschrak und bäumte sich auf.
Ruhig, ganz ruhig! erklang eine leise Stimme neben ihm.
Ramurda zog fest an den Zügeln. Sie spürte sie kaum in ihren klammen
Händen. Der Regen hatte ihre Kleidung durchnässt. Sie fror nicht
mal mehr. Die scharfen Bambushalme hatten ihr in Gesicht und Hände
geschnitten. Aber auch diesen Schmerz spürte sie kaum vor Müdigkeit.
Weiter und weiter Schritt um Schritt leitete sie unnachgiebig das
Pferd auf einem Weg, den nur sie zu kennen schien. Wie die Baumgeister im
Frühjahr folgte sie einer inneren Stimme, die sie sicher über
die uralten Pfade aus dem Drachenmoor ins Buschblütental führte.
Das Unwetter hatte sie überrascht. Kurz nach ihrem Aufbruch im Drachenmoor
hatte es begonnen. Sorgenvoll schaute sie sich immer wieder um; sah nach
dem Wagen. Versuchte in der Dunkelheit auszumachen, ob die Verfolger ihnen
noch auf den Fersen waren. Unter dem kargen Schutz einer Bambusgruppe ließ
sie das Pferd anhalten. Sie zog sich an der Deichsel am Wagen vorbei nach
hinten, um einen Blick in das Innere zu werfen. Ein Bündel lag in dicke
Leinentücher gewickelt, in einem fest geflochtenen Bambuskorb. Warm
und trocken eingefasst in mehrere Lagen Heu und Stroh. Dunkle Augen schauten
sie ruhig aus dem Tuch heraus an. Draußen tobte ein Sturm und dieses
kleine Wesen strahlte solch große Ruhe aus. Widerwillig lächelte
Ramurda. Solch ein Vertrauen. Sie musste es schaffen, sie hatte es versprochen.
Fluchend tastete sie sich wieder zurück zum Pferd und trieb es erneut
an. Alles wird gut. Du wirst schon sehen. Wir schaffen es. Wir beide
schaffen es.
Der Morgen dämmerte bereits, als sie die Tore des Buschblütentals
erreichten. Ein Seufzer der Erleichterung, eher ein Schluchzen, drang
durch ihre Kehle. Müde lehnte sie den Kopf an den Hals des Pferdes.
Wir haben es geschafft. Du und ich wir haben es geschafft.
Es war nicht klar, wen sie meinte.
Der Regen hatte merklich nachgelassen. Erschöpft taumelte sie durch
die verwüsteten Straßen: Bambusstämme lagen schräg
über den Gassen, lehnten an anderen Stämmen. Brücken waren
aus ihren Halterungen gerissen und lose Seilenden baumelten am Bambus
herab. Türen hingen schief in den Angeln und stellenweise flatterten
Gardinen durch zerborstene Fensterscheiben. Bilder und Bücher schwammen
auf den Wasserlachen; zerbrochene Stühle hatten sich an einer Biegung
gesammelt, ein rosafarbenes Sofa schien an einem Bambus hochzuklettern,
so schräg steckte es im Schlamm. Sogar ein kleiner Nachttopf wippte
in einem Rinnsal an ihr vorbei.
Es war noch früh. Die Bewohner hatten ihr Kommen nicht bemerkt. Nach
den Geschehnissen der letzten Nacht schliefen die meisten von ihnen. Ihr
war es recht. Je weniger davon wussten, desto besser. Das Pferd am Zügel,
das Bündel fürsorglich im Arm ging sie zitterig aber zielsicher
durch die nassen Gassen. In einer schmalen Straße blieb sie
ganz hinten vor einer blauen Tür stehen. Ein grüner Drachenkopf
diente als Türklopfer. Kraftlos benutzte sie ihn. Eine Weile passierte
nichts. Dann wurde die Tür einen Spalt geöffnet. Die hagere
Gestalt eines Mannes erschien, sein Gesicht blieb im Dunkeln.
Du hast es also geschafft, stellte der Mann fest.
Ja, antwortete Ramurda schlicht.
Dann gib es mir jetzt, verlangte er.
Ramurda verzog kaum das Gesicht, aber es war ihr anzumerken, wie schwer
es ihr fiel.
Es ist richtig, sagte der Mann sanft.
Ramurda nickte und gab ihm schweigend das Bündel.
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