Leseprobe:
Schatten im Moor (Sarina M. Lesinski)

Zweites Kapitel

Ich weiß, dass du eigentlich heute frei hast, aber was soll ich denn machen? Bitte Jan, lass mich nicht hängen. Es ist wirklich eilig. Morgen kommt der Enkel vom alten Willert direkt aus der Wüste in mein Büro. Da will ich ihm wenigstens sagen können, auf welche Weise sein Großvater tatsächlich ums Leben gekommen ist. Außerdem muss er die Leiche identifizieren. Danke Jan, du hast was gut bei mir.“ Raimund Kramer legte den Hörer auf. Der Hauptkommissar war ein hochgewachsener Mann Anfang vierzig, dessen dunkles Haar sich bereits beträchtlich lichtete. Auf der anderen Seite seines Schreibtisches lümmelte Inspektor Malte Sörensen in einem bequemen Drehsessel und hatte das Gespräch interessiert verfolgt. Der Däne mit dem deutschen Pass war vor gut einem Jahr zur Mordkommission in Lüneburg versetzt worden und hatte in Raimund Kramer nicht nur einen hervorragenden Chef sondern auch einen guten Freund gefunden.
„Wie ich höre, hast du Jan überredet, seinen freien Tag für uns zu opfern“, lachte Sörensen mit einem Augenzwinkern. Mit seinem weißblonden Haar und den großen blauen Augen war der Däne der Schwarm aller weiblichen Mitarbeiter im Dezernat.
„Jan hat uns noch nie hängen lassen“, antwortete Kramer und reichte Sörensen eine Akte über den Schreibtisch. „Sieh dir das bitte mal an, damit du Bescheid weißt. Das ist die Akte von dem Autounfall, bei dem Hein Willerts Tochter ums Leben kam. Sein Enkel saß damals am Steuer und kam mit dem Schrecken davon. Ein Jahr später kehrte Florian Willert Deutschland den Rücken und ging als Entwicklungshelfer in den Kongo. Bis heute ist er in Afrika geblieben und hat seiner Heimat in den zurückliegenden zehn Jahren keinen einzigen Besuch abgestattet.“
„Klingt wie ein Schuldeingeständnis, findest du nicht?“ Sörensen nahm die Akte zur Hand und schlug sie auf.

„Nein, die Sachlage war eindeutig.“ Kramer schüttelte den Kopf. „In der engen Haarnadelkurve zwischen Ellert und Widdershausen passierten in der Vergangenheit immer wieder Unfälle. Nach Susanne Willerts Tod wurde die Kurve zur Dreißig-Zone erklärt. Seitdem gab es nur ein paar Blechschäden auf der Strecke. Florian Willert war nicht einmal mit überhöhter Geschwindigkeit gefahren, aber die Straße war nach einem Gewitterguss voller Schlamm und Kies. Da ist er ins Schleudern gekommen und prallte mit der Beifahrerseite des Wagens gegen den einzigen Baum, der dort nahe der Straße auf der Wiese steht.
„Na ja“, lenkte Sörensen ein, „so wie diese Frau Haidhauer den alten Willert geschildert hat, ist seine Flucht nach Afrika wohl kein Wunder. Wer will schon den ganzen Tag mit einem verbitterten Dickkopf zusammenleben. Da hätte ich auch die Flucht ergriffen.“
„Na, das hast du doch getan, nicht wahr.“
„Nein, dass ich Dänemark verlassen habe war keine Flucht sondern berufliche Neugier“, konterte Sörensen.
„Ach, so nennt man das heute. Den Ausspruch muss ich mir merken, falls ich mal irgendwann eine Ausrede brauche“, lachte Kramer und fuhr fort, „die Spurensicherung ist fertig auf Willerts Hof. Sie haben die Gebäude versiegelt. Trotzdem möchte ich mich dort noch einmal umsehen. Kommst du mit?“
„Klar“, Sörensen stand auf, „obwohl mir nicht ganz klar ist, was du dort willst. Ist es nicht besser, erst mal den Bericht der KTU abzuwarten?“
„Ich kenne das Willertsche Anwesen seit meiner Kindheit. Hein Willerts Neffe Johann war mein Schulfreund. Wir haben einen Großteil unserer Freizeit auf dem Hof seines Onkels verbracht, wo Johann nach dem Tod seiner Eltern wohnte. Deshalb kenne ich die Gewohnheiten des alten Willert besser als jeder andere hier im Dezernat. Sollte es etwas Ungewöhnliches dort geben, so wird es mir am ehesten auffallen. Außerdem kenne ich auch Florian Willert noch aus dieser Zeit. Er war ein paar Jahre jünger. Wir haben viel zu dritt unternommen damals.“
Ohne ein weiteres Wort nahm Sörensen die Jacke vom Haken und folgte seinem Chef auf den Parkplatz des Reviers.


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