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Leseprobe:
"Mona Lisa ´58" Wilfried Milter
Jede Sehnsucht hat irgendwo einen Anfang.
Bei manchen Begebenheiten bleibt man innerlich stehen, so, als hielte
eine Hand uns fest, als wollte ein Mund uns sagen: Nicht so eilig, es
läuft nicht fort, wo du hinwillst oder musst, es kann warten.
Bei mir war diese Begegnung ein Bild, ein Bild in einer Zeitung, die irgendwo
herumlag, zerknittert vom mehrmaligen Lesen. Offensichtlich war keiner
der Bildungshungrigen sorgfältig mit ihr umgegangen. Ich war noch
ein Kind, als mich dieses Antlitz wie eine Naturgewalt berührte und
das ist schwach ausgedrückt. Es war ein Beben und ich wusste, ich
musste viel allein bleiben, das Bild zu mir sprechen lassen, um es zu
verstehen. Und nur mit wenigen kannst du darüber reden, nur wenige
werden dich verstehen. Doch das war mir egal, wenn nur das Bild bei mir
blieb.
Ich fragte die Leute, wem die Zeitung gehörte? Jeder zuckte die Schultern,
keiner fühlte sich dafür verantwortlich. So kam die herrenlose
Zeitung in meinen Besitz, wurde mein Eigentum. Sorgfältig schnitt
ich das Bild aus der Seite, legte es in ein schweres Buch, das ich zusätzlich
mit einigen in Papier gewickelten Mauersteinen beschwerte. Es brauchte
nicht lange, und die Gewichte zeigten Wirkung, das Bild verlor alle Knitter
und Falten.
In einem Schrank auf dem Speicher hatte Mutter einen Pappkarton voller
ausrangierter Dinge, die nicht mehr täglich gebraucht wurden, aber
zum Wegwerfen noch viel zu schade waren. Eine Kiste, wie sie wohl in den
meisten Haushalten zu finden ist.
Wir werden mal sehen, ob wir für deine Mona Lisa einen passenden
Rahmen finden?
Ich staunte, Mutter kannte den Namen des Mädchens, Mona Lisa.
Dieser Klang hallte in mir nach wie ein Rufen in den Bergen, das sich
viele Male wiederholt, bis es wie die Melodie eines Orchesters leiser
und immer leiser wird. Und ich dachte, ein schöner Name für
eine schöne Frau. Es gab einen Rahmen in dem Karton, einen schlichten,
schwarzen Holzrahmen mit einer Glasscheibe. Doch für mein Dafürhalten
war der Bilderrahmen viel zu groß.
Als ich leise meine Bedenken anmeldete, meinte Mutter ganz locker: Wir
werden uns ein passendes Passepartout zuschneiden und du wirst sehen,
es bringt das Bild erst richtig zur Geltung.
Was Mutter alles weiß, dachte ich, diesen Ausdruck hatte ich noch
nie gehört.
Wie sich herausstellte, hob das Passepartout aus weißem Karton das
Bild von einem Zeitungsausschnitt in den Rang eines Gemäldes. Ich
hatte nur ein kleines Zimmer, welches ich noch mit meinem Bruder teilte.
Wir hatten uns arrangiert, jeder respektierte die Hälfte des anderen.
Am Kopfende meines Bettes, neben einigen anderen Bildern, darunter eines
von Carcassonne, und einer Kette von ausgepusteten Vogeleiern, fand es
für viele Jahre seinen endgültigen Platz. Kam ich ins Zimmer,
ging mein erster Blick zu dem Bild. Dieses geheimnisvolle Lächeln
zog mich in seinen Bann und immer war ich davon überzeugt, und wenn
ich tief in mich hineinschaue, bin ich es auch heute noch, das Mädchen
lächelte nur für mich. Was natürlich totaler Unsinn ist.
Jetzt im Rückblick der Jahre, wo auch mich die Zeit erwachsen werden
ließ, denke ich manchmal, in gewisser Hinsicht hat mich dieses reine
Lächeln auch erzogen oder wenigstens dazu beigetragen.
Betrat ich das Zimmer und meine Schuhe waren nicht so sauber, wie sie
es sein sollten oder konnten, tadelte mich dieses Lächeln, dass ich
manchmal dachte, es hat sich ins Spöttische verwandelt. So, als wollte
es sagen, ein ordentlicher Junge übersieht, aus welchem Grund auch
immer, keine schmutzigen Schuhe. Oder waren im Schrank meine wenigen Hemden
nicht ordentlich zusammengelegt, traf mich auch hier ein milder Verweis.
Es ging soweit, dass nur ich noch unser Zimmer reinigte, so wusste ich
wenigstens, alles hatte seine Ordnung. Erstaunt bemerkte Mutter meine
Veränderung, doch sie sagte nie etwas. Aber ich spürte an vielen
Kleinigkeiten, dass sie sich darüber freute und das Lächeln
des Mädchens erschien mir voller Güte und Zustimmung und das
wollte ich mir unbedingt erhalten.
So lernte ich mit der Zeit die Wirklichkeit, die wahren Zusammenhänge
hinter dem Vordergründigen zu erkennen. Es bleiben auch weiterhin
unsichtbare Dinge, die alle wirklich wichtigen Zusammenhänge miteinander
verbinden.
Dieses Bild der Mona Lisa von Leonardo da Vinci, sagte mir
Mutter Jahre später, hängt im Louvre, das ist heute ein
großes Museum in Paris. Ich hätte gerne einmal diese Stadt
mit ihren Kunstschätzen besucht, doch es ist nie etwas daraus geworden.
Die Umstände waren dagegen. Der Krieg hat das Meiste an Plänen
zerstört und nicht nur meine. Trauer schwebte in ihrer Stimme.
Stumm nahm ich ihre Hand, streichelte sie und ohne zu überlegen sagte
ich zu ihr: In ein paar Jahren werde ich in diese Stadt fahren und
mit deinen Augen sehen, werde dir von den Eindrücken, die mich vor
dem Bild berühren, erzählen.
Jahre später, als ich mit meiner ersten Ausbildung fertig war, stand
ich schon im Morgengrauen an der Straße. Wie viele andere reiste
auch ich über den Daumen. 1958 waren die meisten Leute noch arm und
wer sich ein Auto leisten konnte, zeigte gerne seine Hilfsbereitschaft
und nicht zu vergessen, seinen bescheidenen Wohlstand, man war doch schon
wieder wer.
Am späten Abend, es ging schon bedenklich auf Mitternacht zu, war
ich mit dem letzten Wagen bis nach Kaiserslautern gekommen. Der Fahrer
wohnte dort. Wenn du willst, kannst du bei uns schlafen, die Jugendherberge
hat sowieso schon zu und bei uns kostet es dich nichts und Morgen, wird
dir meine Freundin, die bei mir wohnt, ein kostenloses Frühstück
servieren. Was hältst du davon?
Danke für Ihr Angebot, ich nehme an. Wohnen Sie hier in der
Nähe?, fragte ich aus Gewohnheit.
Noch wenige Minuten, dann sind wir in der Donnersbergstraße,
dort wohne ich.
Eine gute Wohngegend dachte ich, soweit man es im trüben Licht der
Straßenlaternen ausmachen konnte. Doch ich staunte, als wir im Haus
waren, ein vornehmer Schuppen, erlesen eingerichtet.
Der Mann wurde von seiner Freundin erwartet. Neugierig betrachtete sie
sein Mitbringsel: Wie ist es gelaufen?
Der Mann umarmte seine bessere Hälfte, als er erleichtert sagte:
Viel besser, als wir es uns vorstellten. Morgen erzähle ich
es dir ausführlich, heute bin ich einfach zu müde. Dass ich
nicht am Steuer eingeschlafen bin, habe ich Wilhelm zu verdanken. Seine
Berichte hielten mich munter.
Der Morgen war so, wie mir der Fahrer angekündigt hatte. Ich bekam
ein erlesenes Frühstück, es passte zum Haus. Die Frau, ich schätzte
sie auf dreiundzwanzig Jahre, setzte sich zu mir, fragte, wo ich hinwollte,
wo ich herkam, ob ich schon öfter getrampt war, was mich an Frankreich
faszinierte und noch eine Menge anderer Dinge. An ihren Fragen merkte
ich schon bald, dass sie einsam war. So erzählte ich ihr von meiner
Begegnung mit Mona Lisa, wie dieses Bild mein Leben schon als Kind beeinflusste.
Minutenlang lauschte sie in sich, dann sagte sie, wie aus einem Traum
erwachend: Wie gern möchte ich mit dir kommen, ich lebe hier
wie in einem goldenen Käfig. Mein Freund ist in geschäftlichen
Dingen oft tagelang abwesend, und wenn er heimkommt, ist er meistens todmüde.
Ich hatte gehofft, er wird ein paar Tage bei mir bleiben, doch er ist
schon in der Frühe gefahren. Nach einer Weile des Schweigens
wurden ihre Worte versöhnlicher. Viele beneiden mich um mein
sorgenfreies Leben und schon bald, hat Peter mir versprochen, wird sich
vieles für mich zum Guten verändern und darauf hoffe ich.
Nach dem Frühstück verabschiedete ich mich, wollte gehen. Doch
die Frau sagte. Ich bringe dich bis an die Grenze, dann bin ich
nicht so allein und du bist schneller in Frankreich.
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