Leseprobe:
Creativo;
J. Gerlinde Lenz, Sonia Schröder, Ingrid Hammer



Die Zauberin (J.Gerlinde Lenz)

„Sie ist wieder da!“ wispern die Blaumeisen und hüpfen aufgeregt durch das Gebüsch. Rotkehlchen huscht von Zweig zu Zweig, von Baum zu Baum und verkündet mit vor Freude zittriger Stimme: „Sie ist auch diesmal gekommen, habt ihr es alle gehört?“ - „Der Wind trägt so zarte Klänge herüber“, raunt es in den Blättern der Parkbäume.
Da fliegen sie herbei und lassen sich nieder in der Krone der mächtigen alten Linde gegenüber dem Schloss: Die Singdrossel dämpft ihre kräftigen Flötentöne, der Buchfink, die Grasmücke, der Zaunkönig.... Sie alle lauschen den Zauberklängen.
Und dort unten sitzt sie, in ihrem Leinenkleid mit den goldenen Borten, die dunklen Haare zu einem losen Knoten geschlungen, die Harfe zwischen den Knien. Wie schön sie ist! Ihre Finger gleiten über die Saiten und zaubern eine wehmütige Melodie aus längst vergangener Zeit. Dann wieder folgen feste Griffe und kräftige Töne. Die gefiederten Sänger oben im Geäst stimmen - einer nach dem anderen - mit ein zu einem himmlischen Konzert. Nun singt sie ein Lied in einer fremden Sprache. Die Menschen, die einen Kreis um sie gebildet haben, verstehen sie nicht. Doch der sanfte Klang berührt sie, sie fühlen sich eins mit der Musik, den Stimmen der Natur und der Linde im Schlosspark. Jetzt schweigt die Sängerin. Auch die letzten Harfentöne verklingen. Die Vögel jubilieren weiter: „Adieu, Manuela! Komm wieder im nächsten Jahr!“

Kurts Geschichten (Sonia Schröder)

Kurts Abwehrmethoden:
„Ein Mensch kam gestern zu Besuch,
legte über alles sein rotes Tuch, mit Löchern und Flecken.
Ich falte das Tuch zusammen,
geb´s ihm zurück in aller Ruh. Der Besucher geht und schließt
leise, als wär´ er betroffen, die Türe hinter sich zu!“

„Ein Mensch, den ich nicht hereingebeten,
hat lärmend meine Tür eingetreten:
hat geschrien, daß er jetzt das Sagen hätte!
Aus leisen Wörtern flocht ich eine Kette
und legte sie sanft um sein Geschrei -
es stockte... und brach entzwei!“


Herr Steiner kommt (Ingrid Hammer)

Das Brennen von fünf Fingern wie immer
ein göttliches Maß, und wie immer
dieser Singsang: Hexe da vorne, was sprichst Du so lang? Ach,
so viele Stuhlreihen zwischen Klassentüre und uns!
Und rechts die sieben Fensterglasscheiben
voll zerbrechenden Glücks: Sommer und Herbst,
und Winter und Frühling.
„Wir wollen nun Masken herstellen!“ Fleisch
oder nicht Fleisch?

Herr Steiner kommt endlich
und sieht sich uns an:
vierundvierzig Kinder,
einen Rohrstock
und immer

das falsche Buch unter der Bank

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