Leseprobe:
Herzdame (Werner Heinemann)

Seite 6
Anne mit professioneller Hilfe, wie beispielsweise durch einen Detektiv aufspüren zu lassen, war ihm zuwider. Das hätte sie beleidigen und ihn beschämen können. Er fühlte eine erdrückende Hilflosigkeit. Doch die Hoffnung stirbt bekanntlich zuletzt. Im Informationszeitalter, in dem Daten in Massen zur Verfügung stehen, muss sie auch dann zu finden sein, wenn sich von ihr keinerlei Spuren im Internet befinden sollten.
Er begann systematisch vorzugehen und notierte alles, was ihm zu ihr einfiel. Da kam doch noch allerhand zusammen. Er wusste ihren Vornamen, ihren Geburtsnamen, ihren Geburtstag, ihren Geburtsort und ihren ehemaligen Wohnort. Die ebenfalls verschollenen Eltern und Geschwister, Freunde und Bekannte, die Schule, die Lehrstelle und die Freundinnen konnten möglicherweise hilfreiche Hinweise geben. Die zeitliche Orientierung begann mit dem Tag ihrer Trennung. Und alle Umstände seitdem mussten Stück für Stück dazu beitragen, ihren Verbleib aufzuklären.
Trotz zwischenzeitlichem Umzug hatte er mithilfe eines digitalen Telefonbuchs relativ schnell ihre Eltern lokalisiert. Das brachte ihn zwar nicht besonders weit in seinen Ermittlungen, stimmte ihn aber als Erfolgserlebnis zuversichtlich.
Sozialen Netzwerken im Internet stand er zwar skeptisch gegenüber, musste solche Dienste für seine Zwecke aber aus der Not geboren in Erwägung ziehen. Da war zunächst herauszubekommen, was diese Netzwerke für ihn leisten konnten. Sein bester Freund Kalle Kaule hatte ihm bereits einmal eine Beitrittsaufforderung in ein solches Netzwerk per E-Mail geschickt, doch er hatte das Ansinnen ziemlich rüde als Kinderkram bezeichnet und abgelehnt. Nun hieß es, bei Kalle Abbitte leisten.

Bernie Beimann und Kalle Kaule kannten sich schon aus der Schulzeit, die sie gemeinsam fünf Jahre absaßen, wie Kalle es ausdrückte. Kalle war nicht nur Bernies Schulkamerad, sondern auch sein allgegenwärtiger und gutmütiger Beschützer gewesen. Bis auf den heutigen Tag gefiel sich Kalle immer mal wieder gern in dieser Rolle.
Nach der Schulentlassung hatte man sich rasch aus den Augen verloren. In einem Kasernenblock beim Bettenbau auf einer Zwölfmannstube einer Ausbildungskompanie traf man sich überraschend wieder. Von da an dienten sie, von wenigen kurzen Unterbrechungen abgesehen, gemeinsam acht Jahre als Soldat. Nach der Militärzeit war Bernie weitere acht Jahre – über die er partout nicht reden will – verschwunden, tauchte aber pünktlich zum Antritt einer nicht unbedeutenden Erbschaft wieder auf.
Die Pacht für geerbtes Ackerland und Wiesen stellte für Bernie angesichts des Erbes eines beträchtlichen Wertpapierdepots lediglich ein bescheidenes Zusatzeinkommen dar, das im Vergleich nicht der Rede wert war. Wohngebäude und Stallungen hatte Bernie bereits ein Jahr nach Antritt des Erbes an Pferdeliebhaber, bei gleichzeitiger Verpachtung der Weiden am Gehöft, für einen sehr guten Preis verkauft. Für einen Großteil des Erlöses hatte Bernie in einem besseren Viertel der Stadt eine Eigentumswohnung erworben. Seitdem war er in einem viergeschossigen Wohnhaus stolzer Besitzer von vier Zimmern, Küche, Bad, Loggia, Speicher und Kellerraum sowie eines Stellplatzes in der Tiefgarage.
„Schnäppchen! Glück muss man haben“, wurde Bernie nicht müde, seine Stadtwohnung ungefragt näher zu erklären. Hier wohnte er nun schon vierzehn Jahre und musste feststellen, dass er die Fünfzig bald erreichen wird.

Bernie machte alles andere als einen entspannten Eindruck, als er Kalle im Café gegenübersaß. Der sah ihn amüsiert an und rührte mit dem Löffel im Cappuccino herum.
„So, so“, spottete er.
Bernie war ungeduldig. „Mach es nicht so spannend. Welcher Netzwerkverein ist der beste?“
„Grundsätzlich sind alle gleich gut, weil in allen der gleiche Kinderkram abgeht.“ Kalle grinste breit und genüsslich mit hochgezogenen Augenbrauen und schlürfte vom Cappuccino. „Wenn du jemanden suchst, was ich annehme, ist es zweckmäßig eigene Daten und Informationen gezielt einzusetzen.“
„Ach, was du nicht sagst“, knurrte Bernie und kleckerte vom Kaffeelöffel auf die Tischdecke.
Kalle gab ihm bereitwillig Empfehlungen, die für unterschiedlichste Fälle und Zwecke in Betracht kamen. „Und wenn du sie dann gefunden hast, dann grüß die Schöne unbekannterweise von mir.“
Bernie arbeitete schon mental an der Auswahl der Empfehlungen. „Mach ich.“ Zu spät, er war Kalle auf den Leim gegangen. „Unsinn“, behauptete Bernie zerfahren und fuhr ärgerlich fort, „interpretiere da nicht mehr rein als drin ist.“
Aber Kalle ließ nicht locker.
„Oder kenne ich sie sogar?“ Er lachte. Bernie ging nicht drauf ein. Er zahlte beide Cappuccino und hatte es nun sehr eilig.

Die Zielsetzung war ihm selbst nicht ganz klar. Was wollte er machen, wenn er sie gefunden hatte? Er konnte sich diese Frage ebenso wenig beantworten, wie er Ziel und Motivation im Erfolgsfall begründen sollte. Er ärgerte sich über sich selbst. Bei einem jungen verliebten Teenager mochte es ja angehen, dass der wirre Verstand manchmal in erhebliche Schieflage gerät, aber bei einem fast Fünfziger, der sich in eine Idee verliebt hat, sollte man zumindest voraussetzen, dass er weiß, warum er etwas tut. Bernie wusste es nicht.
Dann ertappte er sich wieder dabei, wahllos nach einem Lebenszeichen von Anne im Internet zu googeln. Aber Anne gab es scheinbar nur in seinen Vorstellungen. Immer mal wieder hörte er sich über den Kopfhörer das Lied Jugendliebe von Ute Freudenberg an. Das hatte aber nur zur Folge, dass sich eine melancholische Grundstimmung chronisch zu verfestigen drohte.
Bernie war entschlossen zu handeln. Er wollte wissen, wie es ihr ergangen war und wie es ihr jetzt ging. Dazu musste er aber erst einmal wissen, wo sie ist.

Die Formalitäten der Registrierung waren schnell erledigt. Wie erwartet nervte der Betreiber, bevor sich Bernie überhaupt halbwegs auf der Seite orientieren konnte, mit scheinbar völlig uneigennützigen Vorschlägen, die Bernie zweckmäßigerweise als Nächstes alle durchführen könnte. Zuerst sollte er ein Foto von sich als Profilbild hochladen. Damit würde er helfen, besser gefunden zu werden. Nirgendwo fand Bernie die Möglichkeit mitzuteilen, dass er gar nicht gefunden werden wollte.
Bernie begann die Jahrgänge nach Freunden und Bekannten, in erste Linie natürlich nach Anne, abzusuchen. Tatsächlich tauchten einige alte Freunde auf, die er sofort wiedererkannte. Bei manchen musste er allerdings stark nachdenken und bei vielen half auch das nicht, obwohl er sie hätte kennen müssen. Es war zu lange her. Indem sie ihren Mädchennamen in Klammer mit angegeben hatten, erwiesen sich einsichtige Frauen als so nutzerfreundlich, dass Bernie sie deshalb doch noch zuordnen konnte.
Eigentlich hatte er es auch erwartet – sie war nicht dabei.
Aber dann identifizierte er Jana. Er war sich ganz sicher, dass sie mit Anne in der gleichen Schulklasse gewesen war. Anne selbst wollte offensichtlich nicht gefunden werden. Hatte sie etwas zu verbergen? Wenn ja, was? Bernie spekulierte wild. Er malte sich mitleidend düstere Bilder ihrer Vergangenheit und Gegenwart aus, um dann erschrocken doch das freudige Happy End für Anne zu erhoffen. Seinem Skatblatt entnahm er die Herzdame und steckte sie gut sichtbar an die Pinnwand.
Die Kontaktaufnahme mit Jana war ganz leicht. Über den E-Mail-Dienst des Netzwerkbetreibers ging Bernie ans Werk.
Bernie an Jana, 1. September

Hallo Jana,
ich bin mir sicher, dass Du die Schwester von Heino bist. Dein „neuer“ Nachname hat mich nur kurz irritiert. Schön, dass ich Dich hier gefunden habe. Ich würde mich freuen, wenn Du mir antwortest.

Schon am anderen Tag kam eine Nachricht über den Netzwerkbetreiber per E-Mail. Jana hatte geantwortet. Bernie zögerte keinen Augenblick.

Jana an Bernie, 2. September

Über Deine Zeilen habe ich mich sehr gefreut. Es stimmt, ich bin die Schwester von Heino. Irgendwie ist es schön, mal wieder von Leuten zu hören, die lange von der Bildfläche verschwunden waren. Wenn Du Lust und Zeit hast, kannst Du ja mal schreiben, was Du so treibst.

 

 

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