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Leseprobe:
Fachwerkgeflüster aus dem Eichsfeld und anderswo (Creativo)
Der Stadtschreiber
von Richard Erren
Nur noch die letzten Stufen der Martinitreppe hinauf, dann war es nicht
mehr weit bis zum Hansehaus. Robert freute sich darauf, wieder einmal
an dem Seminar zum kreativen Schreiben teilnehmen zu können und war
gespannt, wie viele Teilnehmer diesmal dabei sein würden. Nun musste
er noch an der Martinikirche vorbei und den schmalen Durchgang zwischen
dieser und dem sogenannten Windloch, einem der ältesten und wohl
dem kleinsten Fachwerkhaus in der Mindener Altstadt, passieren. Hier hatte
im Mittelalter der Stadtmusikus gewohnt, zu dessen Aufgaben neben dem
Orgelspiel in den Gottesdiensten auch Wächter- und Türmeraufgaben
gehört hatten. Heute, am Freitagabend, hatte er diesen Weg gewählt.
Morgen würde er sicherlich wegen des relativ frühen Seminarbeginns
ohne Probleme einen Parkplatz auf dem Königswall finden und dann
auf seinem Weg durch die alte Kirchstraße und die Ritterstraße
noch viele andere der denkmalgeschützten Fachwerkbauten in der Mindener
Altstadt passieren. Das Hansehaus, welches im Jahr 1547 als Backsteingiebelhaus
erbaut wurde, war ein idealer Ort für das Seminar zum kreativen Schreiben.
Der Seminarleiter verstand es immer wieder, die Teilnehmer zum Schreiben
zu motivieren und dabei Gedichten und Kurzgeschichten zum Entstehen zu
verhelfen. Im Hansehaus warteten bereits acht weitere Seminarteilnehmer.
Drei kannte Robert aus früheren Seminaren, fünf schienen erstmals
dabei zu sein. Wie immer begann die Veranstaltung mit dem ersten Ton des
18.00 Uhr-Geläuts der Martini-Kirche.
Gut drei Stunden später ging Robert den gleichen Weg zurück,
den er gekommen war. Er fragte sich, wie ein Mensch, ja vielleicht eine
ganze Familie, in einem so kleinen Haus wie dem Windloch wohnen konnte.
Für ihn war das unvorstellbar. Die damit verbundenen Gedanken hingen
ihm auf dem Weg zum Parkhaus und der Heimfahrt noch weiter nach.
Als er am nächsten Morgen wie geplant das Hansehaus von der anderen
Seite erreichte, konnte er es nicht lassen, zunächst daran vorbei
zu gehen und noch mal einen langen Blick auf das Windloch zu werfen. Wie
haben Menschen dort unter so beengten Umständen überhaupt leben
können?, fragte er sich in leisem Selbstgespräch.
Nach dem für das Seminar typischen Schreiben eines Morgengedichtes
wurde die Aufgabe gestellt, ein Gedicht oder eine Kurzgeschichte zu einer
vorgegebenen historischen Begebenheit zu verfassen. Dazu erhielt jeder
Teilnehmer einen kleinen Zettel, auf welchem der historische Bezug für
seine Geschichte stand. Bei Robert war es: Minden, kurz nach Goethes
Tod im Jahr 1832. Was sollte er dazu wohl schreiben? Er blickte
von seinem Platz durch die rückwärtigen Fenster des Hansehauses
genau auf das Windloch und fragte sich, wie mochte dort das Leben kurz
nach Goethes Tod ausgesehen haben? Plötzlich hatte er den Anfang
einer Geschichte gefunden und fing an zu schreiben
Der Hahn im nachbarlichen Hühnerhof krähte zum ersten Mal.
Heinrich Rolfing schälte sich aus den dicken Decken heraus, die er
zum Schutz vor der nächtlichen Kälte in sein Bett gelegt hatte.
Zurzeit, man schrieb den März des Jahres 1832, war es nachts immer
noch ziemlich kalt, obwohl tagsüber die Sonne schon recht kräftig
schien.
Die Scheiben des Fensters waren von innen beschlagen, aber er sah am goldenen
Lichterglanz, dass keine Wolken die aufgehende Sonne verdeckten. Das versprach
ein schöner Tag zu werden.
Nach dem dritten Krähen saß er schließlich auf der Kante
seines Bettes. Wenn man denn das Holzgestell, das er sich von seinem kärglichen
Gehalt als neuer Buchhalter der Stadt leisten konnte, als Bett
bezeichnen wollte. Eigentlich war es ja zu klein für ihn, aber mehr
Platz war nicht vorhanden. Das Haus, welches ihm die Stadt Minden für
seine Funktion als Buchhalter überließ, war nun mal das kleinste
in der ganzen Stadt. Für ihn, als alleinstehende Person ging es ja
noch an, aber wie sein Vorgänger mit den acht Kindern hier gewohnt
haben mochte, überstieg sein Vorstellungsvermögen. Da saß
er nun und sinnierte über den vor ihm liegenden Tag. Er würde
gleich eine Tasse Milch trinken, dazu den verbliebenen Kanten Brot vertilgen
und dann frisch gestärkt an die Arbeit gehen. Heute musste er die
Bücher des vergangenen Jahres prüfen. Daran ging kein Weg vorbei.
Sein Vorgesetzter hatte zwar gesagt, das bräuchte er nicht, da wäre
alles in Ordnung. Er müsse nur unterschreiben. Aber nicht mit ihm!
Nicht mit Heinrich Rolfing! Eine Buchführung, die er unterschreiben
sollte, die wollte er auch prüfen. Wo Heinrich Rolfing unterschrieb,
war in Sachen Buchführung alles in Ordnung. So war es bisher gewesen
und so sollte es auch bleiben!
Er erhob sich, immer noch gut gelaunt, und begab sich an den Waschtisch.
Frisch gewaschen und rasiert frühstückte er wie geplant und
ging anschließend zum Kontor. Dort tat er seit einigen Monaten seinen
Dienst als Buchhalter. Die Bezahlung war ziemlich mickerig, aber zumindest
kam das Geld regelmäßig und reichte für ihn als alleinstehenden
Junggesellen zum Leben aus.
Im Kontor angekommen, stellte er sich an sein Stehpult und begann mit
der Prüfung. Zunächst war alles in Ordnung, so wie es zu erwarten
war. Aber dann stieß er auf eine kleine Unstimmigkeit. Klein und
eigentlich unbedeutend. Aber es war ganz klar eine Unstimmigkeit. Und
Unstimmigkeiten gab es bei Heinrich Rolfing nicht!
Er suchte nach Belegen. Er holte die Bücher der vergangenen drei
Jahre hervor. Er prüfte Alles und Jedes wieder und wieder. Worauf
war er hier bloß gestoßen? Das konnte doch wohl nicht wahr
sein! Das war ja nicht zu glauben! Sein Herz schlug ihm bis zum Hals.
Ihm wurde schwindelig. Er konnte es nicht fassen! Wie hatte dies all die
Jahre übersehen werden können?
Er musste sich einen Augenblick hinsetzen. Was konnte er tun? Was musste
er tun? Er war verzweifelt, völlig aufgelöst. Er hatte untrügliche
Belege dafür gefunden, dass der Bürgermeister seit einer Reihe
von Jahren riesige Summen aus dem Stadtbudget abgezweigt hatte, um damit
seine persönliche Garde zu finanzieren. Zum Stopfen dieser Löcher
hatte er Kredite aufgenommen und sicherte diese mit faulen Wertpapieren
ab. Er hatte eine riesige Blase erzeugt, die jetzt kurz vor dem Platzen
stand.
Heinrich Rolfing grübelte und grübelte. Wie konnte er hier nur
herauskommen. Er dachte dabei gar nicht an seine persönliche Situation,
an die Gefahr, in der er plötzlich stand. Er dachte nur daran, wie
er die Situation lösen könnte, ohne dass die ganze Stadt oder
gar das ganze Land Schaden nahm. Dann endlich reifte in
ihm ein Plan. Ja, so könnte es gehen! Ja! Genauso würde er es
machen!
So ihr Lieben, eure Schreibzeit ist zu Ende!, sagte in diesem
Moment der Seminarleiter. Robert schreckte auf. Vor ihm lagen einige eng
beschriebene Blätter seines Schreibblocks. Er war wohl völlig
abgetaucht und in einen wahren Schreibflow gekommen. Schade,
dass er nicht mehr dazu gekommen war, die Lösung des Rätsels
niederzuschreiben. Hier, in der Seminarrealität, hatte er keine Vorstellung
davon, wie denn Heinrichs Lösung des Problems wohl ausgesehen hatte.
Aber auch so, irgendwie unvollendet, gefiel ihm, was er geschrieben hatte.
Vielleicht würde diese Geschichte ja eines Tages in seinem ersten
Buch stehen, wenn er denn je eines veröffentlichen sollte.
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