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Leseprobe:
"David" Wilfried Milter
Der Zug verlangsamte seine Geschwindigkeit, kam bedächtig zum Stehen.
Der Lokomotivführer verstand sein Handwerk, er kam ohne das übliche
Kreischen der Bremsen aus. Der Wagen, in dem er saß, hielt vor dem
kleinen Bahnhof.
Wenn am Giebel nicht der Name der Station in großen Lettern stände
ein vollkommen unbedeutendes Gebäude.
David schaute auf seinen Zettel, auf dem Mutter alle die Bahnhöfe
notiert hatte, durch die er kommen musste. Jeden Bahnhof, den er durchfuhr,
strich er mit einem Bleistift auf seiner Liste aus und ihm war, als würde
es diesen nicht mehr geben, als hätte er seine Existenz verloren,
ausgelöscht, herausgefallen aus dem Sein. Es war eine lange Liste
und alle Namen waren durchgestrichen. Namen, die durch sein Denken schwirrten,
die ihm nichts sagten und doch für ihn wichtig waren, um zu dem letzten
Bahnhof auf seiner Liste zu gelangen.
Er hatte eine Spur gelegt, dachte er, wie ein Knäuel, das er hinter
sich abspulte, welches er bei der Heimfahrt wieder aufwickeln wollte,
die Stationen in umgekehrter Reihenfolge zu passieren, um wieder sicher
heimzufinden.
Er sah, dass er am Ziel war. Eine Rote Kreuz Schwester, die ihn auf der
Fahrt einige Male mit einem Becher Trinken versorgte, und mit der er sich
angefreundet hatte, kam sich verabschieden, dabei überreichte sie
ihm ein Butterbrot, etwas Kostbares in dieser Zeit. David fragte nach
ihrer Adresse, wollte ihr schreiben, doch sie schüttelte den Kopf.
Einige Augenblicke stand sie stumm da, lauschte unhörbaren Worten,
als sie leise sagte. Behalte mich so in Erinnerung, wie Du mich
auf der Fahrt erlebt hast. Lassen wir es dabei, ich habe schon zu viele
Freunde begraben. Eine Umarmung, ein flüchtiger Kuss, abrupt
ging sie zurück.
Es fiel ihm schwer, den Zug zu verlassen. Er hatte etwas mit der Hüfte,
die er beim Gehen unnatürlich herausdrehte, was seinem Gang ein hüpfendes
Aussehen gab.
Es war ein Tag wie jeder andere gewesen, er kam von der Schule, als in
seiner Nähe eine Bombe explodierte. In dem Ort im Ruhrgebiet, wo
er und seine Eltern wohnten, war noch nie eine Bombe gefallen. So hatte
er auch nicht auf das einzelne Flugzeug geachtet, das über ihn dahinzog.
Vielleicht war die Bombe auch gar nicht für diesen Ort bestimmt,
vielleicht hatte das Flugzeug sie nur verloren, dachte er, möglich
wäre es. Jedenfalls blieb es in der nächsten Zeit bei dieser
einen Bombe.
Der Luftdruck schleuderte ihn hoch, warf ihn gegen eine Mauer. Seine Hüfte
zersplitterte. Stechender Schmerz überrollte ihn wie eine Woge, bevor
er ins Dunkel fiel.
Als er wieder zu sich kam, lag er in einem unbekannten Bett, in einem
unbekannten Raum. Er brauchte eine Weile, bis er herausfand, dass er im
Krankenhaus lag.
Er hatte keine Schmerzen. Sein Körper und auch das Bett, welches
er berührte, fühlten sich an wie Watte. Wie lange er geschlafen
hatte, wusste er nicht. Als er zum zweiten Mal erwachte, saß Mutter
an seinem Bett. Besorgt schauten ihre dunklen Augen. Sie war immer noch
schön, dachte er, nach all den schweren Dingen, die sie durchmachte,
war sie immer noch schön. Die lockigen Haare fielen ihr lose auf
die Schultern und ihr Gesicht lebte von dem, was aus der Tiefe heraufstieg.
Er freute sich darüber, dass er es bemerkte. Es ist etwas Schreckliches
passiert, dachte er, und ich bin hingerissen von Mamas Schönheit.
Seine Eltern betrieben ein kleines Eisenwarengeschäft, Nägel,
Schrauben, Handwerkszeug, alles, was für Reparaturen benötigt
wurde, hatten sie am Lager. Es warf gerade soviel ab, um die Familie zu
ernähren.
Sie lebten zurückgezogen, kümmerten sich nicht viel um andere.
Doch genau das war gefährlich in dieser Zeit, wo jeder jeden beobachtete.
In dieser Zeit konnte man nicht in einem Versteck leben. Wer so lebte,
machte sich verdächtig. Argwöhnisch waren die Blicke der Menschen
geworden. Ab und zu bekam Vater eine Vorladung zur Polizei. Sie stellten
ihm Fragen, viele Fragen, die für ihn keinen Sinn ergaben, bevor
man ihn wieder nach Hause schickte. Man fand nichts, doch sie blieben
verdächtig.
Auch, dass sein Vater Daniel hieß, Daniel Goldmann und er David,
machte die ganze Sache nicht leichter. In dieser Zeit hieß man einfach
nicht Daniel oder David, es waren verpönte Namen, die Leute gaben
ihren Kindern markige, altdeutsche Namen.
Einmal fragte er seine Eltern, warum sie ihn David genannt hatten? Sie
zeigten ihm ein Bild von Michelangelos David. Er war überrascht,
es gab wirklich Ähnlichkeiten mit dem Bild. Doch als sie ihm den
Namen gaben, war er ein Baby und alle Babys sahen am Anfang gleich aus,
dachte er, oder war dieser Name, den seine Eltern wählten, eine Trotzreaktion
auf die äußeren Umstände?
Merkwürdige Ungereimtheiten, auf die es wohl keine Antworten gab.
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