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Leseprobe:
In der Barke des Mondes
(Sarina M. Lesinski)
... Eine Stunde später stand Camilla vor der Vitrine mit der Himmelsscheibe.
Irgendwie hatte sie sich diesen Moment immer spektakulärer vorgestellt.
Aber nicht mal ihr Herz schlug schneller beim Anblick des Artefakts.
Vielleicht lag das daran, dass sie die Scheibe nicht berühren konnte.
Camilla erschloss sich ihre Welt nicht nur durch Hören und Sehen.
Sie musste die Dinge fühlen, um sie, im wahrsten Sinne des Wortes,
begreifen zu können.
Versunken stand sie da, schaute auf die grün schimmernde Bronze mit
den goldenen Monden, Sternen und der Sonnenbarke.
Es gibt nur einen Weg, und der führt immer voran und niemals
zurück, hörte Camilla eine Frauenstimme sagen. Erschrocken
fuhr sie herum. Doch da war niemand. Überhaupt besuchten heute nur
wenige Menschen das Museum. Wahrscheinlich wegen des schlechten Wetters,
mutmaßte Camilla.
Als sie sich wieder der Vitrine zuwandte, hörte sie erneut die Stimme.
Die Männer müssen gleich nach unserer Ankunft mit dem
Bau von Häusern beginnen. Wir beide, Mora, werden unterdessen einen
sicheren Platz für unsere Herde suchen.
Mora, murmelte Camilla, wer ist Mora? Was für Häuser
sollen gebaut werden und wo? Und dann auch noch eine Herde irgendwas,
vielleicht Schafe?
Verwirrt schüttelte Camilla den Kopf und ließ sich auf einer
Bank nieder. Von hier aus hatte sie einen guten Blick auf die Himmelsscheibe.
Sie schloss die Augen. Waren ihre Nerven überreizt und spielten ihr
Streiche? Doch da war schon wieder diese Stimme und dann sah Camilla die
Frau. Sie war hochgewachsen, trug ein weißes Kleid und stützte
sich auf einen mit merkwürdigen Zeichen versehenen Stab. Ihr hüftlanges
rotblondes Haar umhüllte sie wie ein dichter Schleier. Neben ihr
schritt ein junges Mädchen. Es war kleiner, sehr zierlich und hatte
kastanienbraune Locken. Jetzt richtete sie das Wort an die große
Frau.
Almea, ich habe schon viel von dir gelernt. Trotzdem verstehe ich
dich nicht. Wir sind vor Salogas Horden geflohen und sollen uns nun in
unsicherem Gebiet niederlassen. Ist das wirklich klug?
Manchmal muss man schwierige Entscheidungen treffen, Mora,
seufzte Almea.
Das Orakel hatte zu mir gesprochen und mir gesagt, dass uns der
Kampf nicht erspart bleiben wird. Ich hielt es jedoch für besser,
einen Kampf zu führen, in dem wir eine Chance haben. Gegen Salogas
Leute hätten wir keine Chance gehabt.
Von dem Orakelspruch hast du dem Rat der Ältesten aber nichts
erzählt, oder?, forschte Mora.
Doch, ich habe ihn nur etwas abgewandelt, gab Almea mit einem
Augenzwinkern zurück. Dann wurde sie ernst und legte Mora die Hand
auf die Schulter. Darüber darfst du niemals sprechen. Das ist
dir doch klar, oder?
Natürlich, nickte Mora eifrig und lenkte das Gespräch
auf ein anderes Thema.
Wie lange werden wir noch unterwegs sein?
Wir werden Ludoras Siedlungsgebiet umgehen, das wird uns einige
Tage kosten, aber ich will kein Risiko eingehen. Wir wissen nicht, ob
Ludoras Leute etwas mit den Wolfsmenschen zu tun haben, die uns letzte
Nacht überfielen, deshalb will ich es vermeiden, durch ihre Siedlungen
zu ziehen.
Schon zum zweiten Mal rundet sich der Mond, seit wir losgezogen
sind. Die Sonne steigt immer höher. Bald steht das Fest zur Sonnenwende
an. Werden wir das wenigstens in unserer neuen Heimat feiern können?
Ich denke schon, Mora. Es ist wichtig, dass wir bis zur Sonnenwende
den Berg erreichen, der dort hinten blaugrün im Morgendunst liegt.
Von seiner Kuppe aus kann ich meine Kalenderscheibe wieder ausrichten.
Darf ich dieses Mal dabeisein?, fragte Mora schüchtern.
Almea betrachtete das Mädchen aufmerksam und nickte schließlich.
Ich glaube, du bist jetzt alt genug dafür.
Ist ihnen nicht gut, junge Frau? Camilla fuhr zusammen und
schlug die Augen auf.
Vor ihr stand ein älterer Mann mit besorgtem Gesicht.
Nein, nein, es ist alles in Ordnung, beeilte sich Camilla
zu versichern und stand auf. Sie ging schnurstracks in den nächsten
Raum und verließ schließlich fluchtartig das Museum.
Auf der Busfahrt zurück dachte Camilla über das eben Erlebte
nach. War das ein Traum? Aber alles war so real, als wäre sie selbst
dabeigewesen. Die beiden Frauen, deren Gespräch sie mit angehört
hatte, stammten unzweifelhaft aus der Bronzezeit. Das verriet ihre Kleidung
und die Erwähnung einer Kalenderscheibe. Offenbar war da eine ganze
Sippe auf Wanderschaft gewesen und sie waren in dieses Gebiet eingewandert,
in dem auch Camillas kleiner Heimatort lag. Fast hätte sie über
ihre Grübelei das Aussteigen verpasst. Im letzten Moment sprang sie
durch die Tür, die sich direkt hinter ihr zischend schloss.
Mit hochgeschlagenem Kragen lief sie durch den Nieselregen. Diese Begegnung
mit Personen aus einer längst vergangenen Zeit hatte sie völlig
aus dem Gleichgewicht gebracht. Dabei hatte sie sich früher immer
eine Zeitmaschine gewünscht, mit der sie durch vergangene Jahrhunderte
reisen konnte. Sie wollte alles gern live erleben, was schon lange vergangen
war. Doch nun, da sie erstmals einen Einblick in eine vergangene Epoche
bekommen hatte, reagierte sie verstört und unsicher. Camilla hätte
sich am liebsten selbst geohrfeigt. Sie war doch immer ein Draufgänger
gewesen, aber seit Hannas Geburt hatte sie sich verändert.
Ich bin wirklich ein Esel, brummte sie vor sich hin, warum
habe ich mich in das Gespräch der Frauen nicht eingemischt? Aber
kann man sich in einen Traum überhaupt einmischen?
Was ist denn mit dir los?, begrüßte Großmutter
sie entsetzt. Du siehst aus, als hättest du einen Geist gesehen.
Es geht mir gut, gab Camilla unwillig zurück und verschwand,
ohne nach Hanna zu sehen, in ihrem Zimmer.
Großmutter schüttelte den Kopf, nahm ihre Urenkelin auf den
Arm und seufzte: Manchmal verstehe ich deine Mutter einfach nicht.
Ich hoffe nur, sie bekommt bald die Kurve und fängt an, ihr Leben
zu gestalten.
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