Leseprobe:
Die Ballade vom dritten Kind (Elena N.)

2. Kapitel

… Bube, bube, bube,
unser Kinni is nich tu Huse,
use Kinni is nach Duderstadt,
holt dem Papa Schnupftabak.

Das „Buben“ sollte sich später noch zu einer Lebensaufgabe erweitern. Aber zunächst kam das „Vögerl“ geflogen, wie die Anne das ganz richtig erkannt hatte. Angstvoll und doch gebannt sah ich zu, wie die so lang wie breite Federkugel sich flach machte, pumpte, die lächerlich kleinen Federstummel schüttelte und ich schon meine Hand ausstreckte um sie zu halten.
Die Anne schrie: „Lass ihn doch!“
„Aber er stürzt doch!“ Und er stürzte auch einen Meter weit vom halben Meter hohen Tisch auf den Teppich. Was für eine wahnwitzige Angst erfüllte mich? Die gleiche Angst vor dem Stürzen hatte ich empfunden, als Anne die ersten Schritte allein wagte. Da war ich auch wie eine Glucke um sie herumgeflattert … und habe gezetert. Noch viele Male beobachtete ich mit angstbebendem Herzen die hartnäckigen Flugversuche und die Abstürze. Aber die Flugstrecken wurden immer länger und sicherer, die Landungen erfolgten dann auf den zur Verfügung stehenden Köpfen der Elefantenfamilie. Als er dann zum ersten Mal das Panoramafenster erreichte und mit dumpfem Aufprall dagegen flog, verlor ich die Fassung. Schreiend lief ich hin, um den erwarteten Genickbruch zu konstatieren. Aber, oh Wunder, er war heil und lebte. Dieses eine Mal hat ihm übrigens genügt zu lernen, dass die Fensterscheibe die Grenze zur Freiheit war. Wie ich bereits anführte, veränderte er sein Aussehen und sein Gebaren täglich. Ein neues Quitschen, Piepen, Pfeifen oder Wispern, die sicheren Kurzflüge. Das Landen auf Sessel, Tisch, Stuhllehnen und Schränken erfolgte sicherer und es wurden daraus Erkundungsflüge. Eines Tages: nicht zu fassen, da verliert er seine mühsam angepäppelten Federn. Starr vor Angst sehe ich ihn wieder struppig werden. Um dann in den folgenden Tagen und Wochen ins andere Extrem zu fallen. Aus meinem hässlichen, kleinen, braunen Entlein mausert sich nach und nach das „Schönste Stieglitzmädchen von der Welt“. So etwas hatte ich nicht erwartet. Fast schwarzrotgold, weiß-silber und orange sind seine Farben, aber so kunstvoll verteilt, wie kein Maler der Welt das fertigbrächte. Dieses Wunder an Schönheit, wachsender Intelligenz und zärtlicher Zuneigung auf Gegenseitigkeit gehört ja eigentlich in die freie Wildbahn. Aber da sind ja auch seine Geschwister aus dem Nest gefallen und waren schon tot, während er noch lebend gefunden wurde. In dieser Phase seiner Entwicklung hätte er draußen wohl auch keine Überlebenschance mehr. Die Schachtel als Schlafplatz hatte nun auch ausgedient. Es gab noch einen Käfig auf dem Boden, der gehörte einem Dompfaff, der kurze Zeit bei uns lebte. Seine Geschichte möchte ich hier nicht beschreiben. Der Käfig wurde also zusätzlich mit einem Stoff bezogenen Brett ausgestattet. Das „Hühnchen“ mochte nämlich nicht auf einer Stange sitzen, freiwillig schon gar nicht in den Käfig, und sich von einer Hand greifen und in den Käfig stecken lassen, dann schon überhaupt nicht. Überhaupt war es nicht immer das reine Zuckerschlecken. Gegen Abend, wenn es dämmerte, wurde er ausgesprochen unangenehm. Er flog wütend in kurzen, heftigen Zügen durch das Wohnzimmer, landete spitzkrallig auf unseren Köpfen, auf Möbeln und Gegenständen und zeterte iepend, piepend und quiekend mit den Flügeln purrend in rasendem Tempo herum, um seine Elefantin attackierend. Bis er dann mit Halt suchenden, strampelnden Beinchen und rudernden Flügeln auf dem rechten Bügel meiner Brille landete und mit spitzen Krallen meine Schläfe kratzte. Total verdattert hielt ich still und harrte der Dinge, die nun kommen sollten. Aber es passierte nichts weiter, als dass er nun still sitzen blieb, offensichtlich am Ziel seiner Wünsche angelangt war.
Der Elefant sagte nun: „Er schläft, hat jedenfalls die Augen zugemacht.“
„Ja, und nun? Muss ich nun die ganze Nacht als Schlafbaum zur Verfügung stehen?“
„Halt doch noch ´ne kleine Weile still, ich mache jetzt das Licht aus und fünf Minuten später greife ich ihn mir und setze ihn in den Käfig.“
Wie gesagt, so getan. Die braune Decke um den Käfig herum, um das Licht abzuschirmen und Friede war. Damit war mir die ehrenvolle Aufgabe zuerkannt, allabendlich in der Dämmerung, während der Sommerzeit und in der kürzeren Winterzeit auf jeden Fall zur Verfügung zu stehen. Nachdrücklich, ja despotisch beharrte er auf dem Recht, bei mir auf dem rechten Brillenbügel einzuschlafen an kurzen und an langen Tagen. Hatte ich mich anfangs noch geweigert, diese Zeremonie zur Gewohnheit werden zu lassen, ihn einen Hitchcockvogel geschimpft, so ließ ich mich doch verurteilen, lebenslang Schlafbaum zu sein. Sicher gab es Tage oder auch Wochen, an denen ich zur Dämmerungszeit nicht zu Hause sein konnte.
Zu meinem Mann: „Was macht er denn, wenn ich nicht zu Hause bin?“
„Och, er spielt den Hitchcockvogel, macht einen auf verrückt. In den Käfig geht er ja nur zum Essen. Manches Mal gelingt es mir, ihn dann einzusperren. Aber meistens muss ich ihn, wo er im Dunkeln eingeschlafen ist, packen und in den Käfig setzen.“
Ich versuche, nicht zu zeigen, wie mir das Herz wehtut.

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