Leseprobe:
Seltsame und allegorische Erzählungen
Narraciones extrañas y alegóricas (Esther Morales Cañadas)

Seite 16

... Als sie von ihrem Schlummer erwachte, machte sie sich daran, mit dem Lehm des Ufers etwas zu formen. Der Lehm aber war noch sehr weich und das Einzige, das ihr gelang, war ein Phallus, der dem Boden zu entsteigen schien. Die Nacht umfing sie und wieder einmal suchte sie Schutz in der Unsichtbarkeit ihres Schöpfers. Und wieder träumte sie und steigerte sich in das Verlangen hinein, einen Jüngling zu besitzen, der ihr gliche. Sie fühlte die Notwendigkeit, lieben zu können. Ja, das war es, was sie ersehnte, jemanden zu haben, den sie lieben und dem sie sich mit Körper und Seele hingeben konnte. So kehrte sie am folgenden Tag zurück zum Fluss und entdeckte, dass sich unterhalb des Phallus zwei Vorgebirge entwickelt hatten, die Beinen ähnelten und ein bisschen weiter oben waren die Formen zweier Arme ansatzweise zu erkennen. Sie berührte zärtlich die neuen Formen, küsste den Phallus und begann wieder zu träumen. So vergangen ein paar Tage, bis letztendlich aus dem Phallus ein frischer, schöner Jüngling geworden war. Dieser erwachte in einem bestimmten Moment aus seiner Lethargie. Er erhob sich, betastete seinen Körper und ging sofort zum Fluss, um sich in dessen Wassern zu betrachten. Er sah sich mit großer Befriedigung an. Eva beobachtete ihn mit leuchtenden Augen. Ihr Herz schlug so stark und praktisch ohne es zu bemerken, stürzte sie sich auf den Jüngling. Sie umarmte und küsste ihn und in weniger als einem Hahnenschrei machten sie schon Liebe. Sie nannte ihn Adam, was so viel wie ‚erster Mann‘ heißt. Äußerst zufrieden mit ihrem Werk schlüpfte sie in die Rolle des Schöpfers und wollte der Führer und Lehrer ihres jungen Schmuckstücks sein. Sie nahm ihn bei der Hand, führte ihn durch den wunderschönen Garten und erklärte ihm alle Einzelheiten. Adam hörte ihr zu – oder tat wenigstens so. – In Wahrheit schritt er umher wie ein Pfau und glaubte sich als Eroberer. Er folgte seinem enormen Phallus, der ihm den Weg öffnete und jedes Mal, wenn er an einem See oder Fluss vorbeikam, betrachtete er sich im Wasser und bewunderte seine eigene Schönheit. ...

Inhaltsverzeichnis

Vorwort

1. Die Erschaffung des Menschen 7

2. Von Entstehen und Überleben:
- Auch, wenn ich nicht ankam, bin ich bei euch 24
- Das Wesen, welches das Wasser hasste 28
- Die kurze Reise 34

3. Über die menschliche Liebe und ihre Konsequenzen
oder ‚ihr Leben‘
- Die Metamorphose eines Satyrs 48
- Mein Leben mit Soledad 69
- Die kurze Liebesgeschichte des ‚Du und Ich‘ 108
- Die nicht existierende Hölle oder das schmerzvolle
Gespräch dreier Männer und nachher einer mehr 110
- Erkenntnis aus der Höhe 127

4. Über andere Angelegenheiten:
- Und ich fuhr nach Europa 129
- Die Geburt Jesu am Ende des 21. Jahrhunderts 142
- Wie der ‚Weinnachtsmann‘ in mein Leben trat /
Biographische Angabe am Rande 163

5. Antwort auf eine Frage:
- Der Bau eines Tempels oder die Rückkehr der
Blaumeisen 168
- Der Wanderer, der Mann und der Eisbär/Allegorie des
Verlangens nach dem Glück 173
- Die Frage auf dem Maisfeld 183

6. Schlussgebet:
- ‚Stabat … dolorosa‘ 186

 

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