Leseprobe:
adoptiertes glück (Ingrid Hammer)

Titelerzählung
Adoptiertes Glück

Novembermond hinter Nebelschwaden. In meiner Hand der Malachit wird langsam warm. Der Rest aus der Rotweinflasche ist getrunken, ein halbes Glas, nicht genug, um Einsamsein zu ertragen, schon gar nicht, um doppelt zu sehen. Was nützte es auch?

Manchmal sehe ich dich auf der Straße vorübergehen.
Du siehst mich nicht.
So, wie du jetzt bist, will ich dich auch nicht sehen – und sehe dich doch.

Sie weiß nicht mehr, wer sie ist. Zaubern möchte sie, noch einmal die Flügel ausbreiten.

Als Storchenschnabel sein Muster in die Wiesen webte, da gingen sie zu blauen Zeiten. Zu weißen Zeiten erste Skiversuche: das Schmatzen des Moores, fast versinken, tanzende Steine auf dem Eis, im Sommer konzentrische Kreise.

So fing alles an. Sie wusste, dieser ist es, kein anderer.
Kitsch, sagen Sie? Sich verlieben ist eine kosmische Sensation.
Diese und keine andere, fand auch er.
Jeden Tag rief er an. Man ging ins Kino oder zum Essen, Bockwurst mit Salat, Adoptiertes Glück.

Er machte verliebte Reime, und sie: Immer, immer will ich bei dir sein.
Nach zwei Jahren war es so weit: endlich ein legitimer Ort. Niemand hatte mehr das Recht, an die Tür zu hämmern: Schluss jetzt, zehn Uhr!

Ein winziges Zimmer, Küchen- und Badbenutzung. Er studierte, konnte ausschlafen. Sie: Das ist gemein, ich muss um sechs raus.

Sie hatten wenig Geld, aber glücklich waren sie. Samstags gab es Kaffee, und prima: Einen Kalten Hund hast du gemacht.

Irgendwann fand sie ein Foto, hielt es ihm vor.

„Och, das ist Karin, hab es auf dem Weg von der Uni zur S-Bahn gemacht.“
Er schnurrte versöhnlich die Tonleiter hinauf und hinab. Ein verspielter Minitiger.

Sie waren glücklich.

Später hatte er sein Studium beendet; man konnte eine Wohnung nehmen. Sie gingen immer öfter aus. Er tanzte rasend gerne mit anderen Frauen. Das machte sie traurig, nicht wütend, denn sie liebte ihn, liebte ihn.
Inzwischen waren sie sieben Jahre verheiratet.
Noch einmal dichtete er:
Ständ ich wie damals vor der Wahl, ich tät das Gleiche noch einmal.

164 000 km bis zum nächsten Stern? Wohin führen solche Gedanken.

Oft war sie abends allein.
Wieso der Sherry schon wieder alle ist! Angst zieht eine klebrige Spur.

Urlaub. Wir werden uns nahe sein, hofft sie.

Mit heißen Fingern fährt die Sonne über das kalte Herz, nährt Illusionen.
Lass uns fernsehen. Links die Frau, rechts der Mann. Zwischen ihnen Jahre des Schweigens. Wohin der Traum von Kirschenzärtlichkeit und warmen, feuchten Küssen?

Abendessen am Meer.

Sieh mal, wo die Sonne war, eine rosenrote Schneise im grau glitzernden Meer.

Ja, ja, brummt er.

Vor ihr aus dem Kaffeesatz steigt Aphrodite – um den Hals ein Strick.

Eines Morgens um vier, als sich der Schlüssel in der Tür drehte …
Nun habe ich es satt.

Jetzt putzt sie einem alten Mann die Wohnung.


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